Drucken
Kategorie: Alltag
cor swr.deKOMMENTAR in der neuesten Presse des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) 

Jan Holze

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nutzt wieder unsere Spielplätze! Rostocks Oberbürgermeister Madsen gab die Richtung vor. Erobert Euch Eure Bewegungsräume zurück. Ende gut, alles gut? Mitnichten.

In den letzten sieben Wochen waren die Kinder in ihrem Recht auf Bewegung massiv eingeschränkt. Kita, Schule, Spielplatz, Sporthalle, Sportplatz – geschlossen. Dabei sind die beschlossenen Regeln für Kinder primär aus der Erwachsenenperspektive gedacht. Die aktuellen Einschränkungen gelten nicht der individuellen Gesundheitsvorsorge der Kinder, sondern sollen das Gesundheitssystem insgesamt schützen.

Auch die Debatte um die Öffnung von Kitas und Schulen vollzieht sich aus der Perspektive der Erwachsenen. Wie können Kinder „betreut“ werden, damit Erwachsene ihrer Beschäftigung nachgehen können. Wagen wir einen Perspektivwechsel: Kinder haben nicht nur einen natürlichen Bewegungsdrang. Sie begreifen die Welt auch durch Bewegung. Mit der Fähigkeit sich auf einen Gegenstand zuzubewegen erfahren Babys ihre Selbstwirksamkeit; „Ich komme aus eigenem Antrieb an mein Ziel“. Kita- und Grundschulkinder trainieren beim Rückwärtsgehen komplexe Verschaltungen ihres Gehirns, die beim (Kopf-)Rechnen gebraucht werden. Beim Rennen durch große Räume schulen sie ihr Verständnis von Entfernung und trainieren räumliche Vorstellungskraft. Bewegung braucht Bewegungsräume. Diese sind für Kinder derzeit fast nicht mehr existent: Alltagsbewegung von A nach B? Entfällt – sie sollen zu Hause bleiben; spielerische Bewegung mit anderen? Entfällt – Kontaktverbot; Schulsport? Entfällt. Vereinssport? Findet nicht statt. Zwar haben viele Sportvereine in der Krise ihre Kreativität bewiesen. Beim EBC Rostock sowie unter dem #Heimarena gibt es im Internet ein breites Angebot „digitaler Sportstunden“.

Das kann reale Begegnung jedoch nicht ersetzen. Wenn „alte“ Bewegungsräume und -angebote nicht möglich sind, dann braucht es Kreativität und Wille neue wohnortnahe (!) zu erschließen. Berlin macht es mit Straßenschließungen und „Pop-Up Bike lanes“ vor. Geht das nicht auch anderswo? Sind solche Ansätze nicht auch in geeigneten Ecken Frankfurts, Münchens oder Rostocks umsetzbar, damit sich Kinder sicher und unter Wahrung des Gesundheitsschutzes bewegen können? Ausgebildete Trainer und Übungsleiter könnten dort Bewegungsparkours und Spielflächen betreuen. Sporthallen und -plätze könnten geviertelt werden, um in Kernfamilien und Kleingruppen Bewegung zu ermöglichen. Kreativität ist gefragt. Corona wird uns lange beschäftigen, keiner weiß wie lang. Bei der Erschließung neuer Bewegungsräume und -angebote steht der organisierte Sport als kompetenter und kreativer Partner zur Verfügung.

Auch in Schule und Kita. In der Ganztagsschule war vor Corona jedes 3. Angebot ein solches des Sports. Es gibt zahlreiche Vereinskooperationen zwischen Schulen bzw. Kitas und Sportvereinen. Gerade in der Krise sollte auf diese Angebote der Zivilgesellschaft zurückgegriffen werden, um gemeinsam die Herausforderungen, die durch die Verkleinerung der Klassen und Gruppen entstehen, bewältigen zu können. 3 • Nr. 19 • 05. Mai 2020  Zum Inhaltsverzeichnis In Deutschland wird aktuell über die Öffnung der Sportanlagen debattiert. Viel zu laut über die der Fußballarenen und viel zu leise über die Sportstätten der 90.000 Sportvereine, in denen sich 10 Mio. Kinder und Jugendliche nicht nur bewegen, sondern auch Freundschaften pflegen. Kinder brauchen Verlässlichkeit und eine Bewegungsperspektive. Ihre Kindheit findet jetzt statt. Sie ist nicht verschiebbar und nicht nachholbar.

Foto:
©

Info:
Jan Holze (Vorsitzender der Deutschen Sportjugend und Mitglied im DOSB-Präsidium)
Der Text ist in leicht abgewandelter Form am 4. Mai in der Ostsee-Zeitung erschienen