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Kategorie: Alltag
Die Macht im RomerDas kritische Tagebuch. Kalenderblatt für den 23. September 20

Geführt von Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sozialdemokratische Milieus haben seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert die Seilschaften ihrer politischen Gegner kopiert.

Den Interessensgemeinschaften aus Bankiers, Fabrikanten, Militärs und Kirchenoberen entsprach die Mitgliedschaft in SPD, Gewerkschaft, Arbeitergesang- und Sportverein und den Vorläufern der späteren Wohlfahrtsorganisationen. Diesen Nachbildungen fehlte zwar anfangs die strukturelle Eleganz ihrer Vorbilder, dennoch waren sie wirkungsvoll. Sie haben unter großen Opfern den kaiserlichen Obrigkeitsstaat und das verbrecherische NS-Regime samt zweier Weltkriege überstanden und konnten sich in der jungen Bundesrepublik neu formieren – so wie ihre traditionellen Gegner es auch taten.

Im Kohle- und Stahlrevier Ruhrgebiet gehörte „man“ von den 1950er bis weit in die 1980er Jahre als klassenbewusster Arbeitnehmer der SPD und einer der tonangebenden Gewerkschaften an (IG Bergbau, IG Metall, ÖTV). Zusätzlich wurde die Arbeiterwohlfahrt (AWO) unterstützt durch Mitgliedschaft und/oder Spenden. Wer auf einer der zahlreichen Zechen Karriere machen wollte (z.B. als Fahrhauer oder Steiger), dem wurde nahegelegt, sowohl der SPD als auch der IG Bergbau beizutreten. Ähnlich ging es zu bei Hoesch und Krupp (hier war die IG Metall angesagt). Eine erfolgreiche Laufbahn bei Stadtverwaltung oder Sparkasse in den größeren Städten war eigentlich nur mit der Kombination SPD- und ÖTV-Mitgliedschaft möglich. Die politische Meinungsbildung erfolgte durch ein Abonnement der „Westfälischen Rundschau“. Wer des verstehenden Lesens vollendet kundig war, bezog seinen Lesestoff aus der gewerkschaftseigenen „Büchergilde Gutenberg“. Auf der anderen Seite spielte sich (nach meiner Wahrnehmung) die Einflussnahme in „Industrieklub“ genannten Zirkeln ab. Nicht zu unterschätzen waren die katholischen Kegelvereine, die bevorzugt von konservativen Juristen goutiert wurden bzw. die Stammtischrunde der Anwälte und Staatsanwälte im „Evangelischen Arbeitskreis“ der CDU. Da ließen sich manche straf- und zivilrechtlichen Verfahren schon mal vorklären.

Bei der Frankfurter AWO und der SPD lief das offensichtlich hemdsärmeliger ab. Wer von ganz unten kommt, langt erfahrungsgemäß besonders undiplomatisch hin, wenn es um persönliche Vorteile geht. Dort ist ein Dienstwagen der Marke „Jaguar“ lediglich ein Symbol für die gelungene Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Oder die Selbsteinstufung in eine Gehaltsklasse, nach der üblicherweise Bundesminister und Kanzler vergütet werden, eine zwangsläufige Selbstverständlichkeit im Rahmen der Verteilungsgerechtigkeit. Mutmaßlich verstößt eine solche Praxis gegen die Statuten einer gemeinnützigen Wohlfahrtsorganisation und der Verdacht der Untreue liegt nahe. Entsprechende Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft laufen.

Wenn hingegen eine eher subalterne AWO-Mitarbeiterin wie Frau Feldmann ein überdurchschnittliches Gehalt plus Dienstwagen für die Leitung einer Kita aushandelt, werte ich das als normales Verhalten in einer sozialen Marktwirtschaft. Ihr Ehemann wird von dem Arbeitsvertrag mutmaßlich Kenntnis gehabt haben. Doch dieses Wissen kollidierte nicht mit seinen amtlichen Aufgaben. Genauso wenig wie seine frühere Tätigkeit für die AWO. Dass Frau Feldmann den übertariflichen Teil ihres Einkommens im Nachhinein zurückzahlte, ist das Eingeständnis einer Schuld, die gar nicht entstanden war.

Der eigentliche Skandal ist die Reaktion des Oberbürgermeisters, der sich linkisch verhielt und sich schlecht beraten ließ (eine Folge des offenbar nach untersten Kriterien verlesenen Mitarbeiter- und Dezernentenstabs). Die politischen Gegner hingegen lachen sich ins Fäustchen. Die geradezu traditionelle Neigung der einen zum Rotlicht- und Spekulantenmilieu sowie die Radfahrermentalität der anderen, welche den grün angemalten Neoliberalismus als Sozialstaat ausgeben, wird von einem Nebenaspekt des AWO-Skandals überlagert und verhindert die notwendige politische Auseinandersetzung über Wesentliches. Die SPD wirkt hilflos, weil sie anscheinend endgültig an ihre Grenzen gestoßen ist. Und die Metropole Frankfurt am Main wirkt ziemlich provinziell.

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Die Macht im Römer
© Medien-Redaktionsgemeinschaft