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Kategorie: Alltag

Modellsegeln auf der Wasserkuppe, Teil 1/2

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) -  Oh dass kein Flügel

                                     mich vom Boden hebt.
                                     (Goethe)


Da stehe ich nun hoch über dem Tal und halte den Atem an. Stille umgibt mich. Wie oft in den vergangenen Jahrzehnten habe ich mir diesen Augenblick auszumalen versucht! Fliegen in der Rhön, an den ehrwürdigen Hängen der Wasserkuppe. Seit den Tagen der Kindheit begleitet mich das Bild vom lautlos durch den Himmel ziehenden Segler, der vom Berg der Flieger aufgestiegen ist in das Reich der kreisenden Vögel. In jener Zeit träumte ich, über Hügel und Felder der alten Heimat zu schweben. Schwerelos glitt ich vorbei an blendend weißen Wolken. Alles an mir schien sich aufzulösen in das Empfinden einer grenzenlosen Harmonie. Ich fühlte mich frei.

Vielleicht ist die Sehnsucht nach Freiheit der Ursprung des Jahrtausende alten Wunsches, fliegen zu können. Nicht von ungefähr steht eine sagenumwobene Flucht aus Gefangenschaft und Verbannung am Beginn der Luftfahrtgeschichte. Daedalus und sein Sohn Ikarus wollten auf Flügeln aus Feder dem Exil auf Kreta entrinnen. Ovid bezeichnet die Flugleidenschaft in den „Metamorphosen“ als eine „Begierde des Himmels“. Sie trieb Ikarus der heißen Sonne zu nahe und ließ ihn abstürzen ins Meer. Ähnlich erging es noch vielen Anhängern des Fluggedankens. Dennoch überdauerte das Verlangen der Menschen, Unbeschwertheit und Glück in freiem Flug zu erjagen, alle Zeiten.

Während einer Wanderung durch die Berge der Westschweiz im Jahr 1775 bekannte Goethe: „Welche Begierde fühl’ ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen! Mit welchem Verlangen hole ich tiefer und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler blauer Tiefe unter mir über Felsen und Wälder schwebt. Soll ich denn nur immer die Höhe erkriechen, am höchsten Felsen wie am niedrigsten Boden kleben?“ Der Dichter, dessen Geist sich emporschwingen konnte zu den Gipfeln der Götter, schien zu verzweifeln vor den Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers. Aber er ließ auch Auflehnung spüren gegen das scheinbar Unabänderliche.

König Salomo blieb auf Distanz. Für ihn zählte der Flug des Adlers hoch in den Lüften zu den drei Dingen, die für Menschen zu wunderbar seien, um wirklich erlebt werden können. Aber was der Mensch nicht besitzt, begehrt er am stärksten; der Hungrige das Brot, der Unfreie die Freiheit. „Wie hart ist es, dass ich erst jetzt den Himmel kennen lerne, da man mich des Rechtes beraubt hat, ihn zu betrachten“, lässt Voltaire den Gefangenen klagen, nachdem dieser von einem Mithäftling mit den Grundlagen der Astronomie vertraut gemacht worden war. In gewisser Weise sind wir alle Gefangene, eingesponnen von tausend unsichtbaren Fäden in die Pflichten des Alltags. Wohl deshalb lässt uns die Sehnsucht nach den Weiten des Himmels nicht los. Wir möchten der irdischen Mühsal entfliehen und in heiteren Gefilden über allem Gewimmel die Sorgen des Lebens vergessen.


Ich stehe in der Stille und träume. Der Wind kühlt mein Gesicht. Wie eine gewaltige Woge brandet er heran und schiebt sich empor an der lang gestreckten Südflanke der Wasserkuppe.  Gleich wird er meinen Segler davontragen. Jetzt darf ich nicht länger zögern. Von den Tragflächen her geht ein kurzes Vibrieren durch den schlanken Rumpf in meiner Hand. Fester muss ich jetzt zupacken, damit der Wind nicht vorzeitig den Ablauf des Geschehens bestimmt. Rasch mache ich zwei Schritte nach vorn und werfe aus hoch erhobenem Arm den Segler der Sonne entgegen. Getrieben vom Schwung meines Körpers steigt das ausladende Modell in die Höhe. Noch während es aufwärts zischt, drücke ich den Hebel des Höhenruders nach vorn. Brav nimmt der weiße Vogel die Nase aus der Sonne und legt sich so in den Wind, dass ich eine Querpassage nach links einleiten kann. Kurz darauf ziehe ich das Seitenruder nach rechts und führe das Modell in einer scharfen Kurve vom Hang weg.

Der Segler hat jetzt seine Ausgangshöhe schon überstiegen. Während der Schräglage blitzen die Tragflächen im gleißenden Licht des großen Himmelsfeuers. Nun geht die Reise wieder zum Hang hin. Flink zieht der elegante Vogel an mir vorüber zur rechten Seite. Der dynamische Aufwind hat ihn inzwischen weiter nach oben gehoben. Mit dem Trimmhebel verringere ich den Einstellwinkel. Das verringert den Auftrieb und die heranbrausende Luftströmung kann den Segler mit seiner Spannweite von drei Metern kaum noch  in einen kritischen Flugzustand versetzen. In der Bahn einer lang gezogenen Acht überlasse ich ihn seinem Element. Allmählich schlägt mein Herz langsamer und die Finger an den beiden Steuerknüppeln des Senders beben nicht wie zu Beginn.  Ich spüre das federnde Gras unter meinen Schuhen, dessen fahles Gelb von Sonne, Regen und Wind erzählt. Meine Augen sind wieder Außenposten der Seele. Das ästhetische Bild des möwengleich dahin ziehenden Kunstvogels vermittelt ein Gefühl der Ruhe.

Die Freude am lautlosen Fliegen geht viele Wege. Einer davon führt in den Flugmodellbau, und damit in die Keimzelle der Luftfahrt, wie der Flugpionier Alexander Lippisch sich ausdrückte. Wer sich mit dem Fliegen beschäftigt, der rückt auch der Natur ein großes Stück näher. Er lernt die Sprache der Wolken kennen und das Orakel der Tauperlen im Gras.
Den Geheimnissen der Luftkraft nachzuspüren und sie technisch zu nutzen ist immer noch faszinierend, obwohl sich der Mensch längst von der Erdenschwere befreit und den Arm ausgestreckt hat nach fernen Planeten. Deshalb wird der Wettbewerb auch künftig einen festen Platz im Leben der Modellflieger haben. Aber nicht von sportlichem Ehrgeiz soll hier die Rede sein, sondern vom glückhaften Erleben des Fliegens in der Einsamkeit der Wiesen und Berge.

Mein Segler schwebt immer in dem gewaltigen Luftstrom. Ehe ich die Landung vorbereite, will ich den Anblick noch eine Weile genießen. Der Wind hat aufgefrischt. Ungestüm drängt er heran und presst die spröden Halme des Graspolsters an den Boden. Rascher streichen im blassen Blau des Himmels die Wolkenschiffe über die Kuppen der Rhön. Ich muss meinen Segler schneller machen. Die stürmische Windsbraut treibt ihn sonst über meinen Kopf hinweg hangwärts. Noch weiter schiebe ich den Trimmhebel nach vorn. Mit reduziertem Auftrieb stemmt sich das Flugmodell wieder dem Wind entgegen und jagt mit meinen Gedanken um die Wette. Fortsetzung folgt