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Kategorie: Alltag

Modellsegeln auf der Wasserkuppe, Teil 2/2

Kurt Nelhiebel

Brmen (Weltexpresso) - Wieso hat es eigentlich so lange gedauert, bis der Mensch die Kunst des Fliegens beherrschte? Wahrscheinlich lag es daran, dass er die Vögel nachzuahmen versuchte und damit in die Irre ging. An starre Flügel, die einfacher zu bauen waren und mehr Sicherheit boten, dachte der Mensch verhältnismäßig spät, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Aber es gab auch Hemmnisse anderer Art. Die frühchristliche Kirche war der Meinung, die Luft solle den Engeln und den Vögeln vorbehalten bleiben. Papst Clemens I. bezeichnete in den „Constitutiones“ jegliche Flugversuche als „Teufelswerk“. Zar Iwan III. bestimmte im 15. Jahrhundert: „Der Mensch ist kein Vogel und hat keine Flügel zu haben. Baut er sich dennoch hölzerne Flügel, so handelt er gegen die Natur. Wegen dieses Bündnisses mit dem Teufel wird der Erbauer geköpft … und seine Erfindung nach einer heiligen Messe verbrannt.“ Noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Flugenthusiasten von einem Chronisten der „Merkwürdigen Beiträge zu dem Wettlauf der Gelehrten“ als „ausschweifende Köpfe“ verhöhnt, die dem Gemeinwesen mehr schadeten als nutzten.

Dennoch hat der Wunsch, fliegen zu können, seine Faszination niemals verloren. Leonardo da Vinci prophezeite: „Der große ‚Vogel’ wird seinen ersten Flug unternehmen, er wird die ganze Welt mit Staunen und alle Schriften mit seinem Ruhm erfüllen.“ Für Otto Lilienthal bedeutete der erste frei fliegende Mensch „den Anfang einer neuen Kulturepoche“. In der Tat konnten Ignoranz und Vorurteile nicht verhindern, dass der Sehnsucht die Verwirklichung des Fluggedankens folgte. Und immer wieder spielte dabei das Flugmodell eine ausschlaggebende Rolle.

Der englische Wissenschaftler Sir George Cayley nutzte als erster die Erfahrungen seiner Zeit für die Flugtechnik. Er baute 1804 das erste Gleitflugmodell. Er war es auch, der als erster erkannte, dass gewölbte Profile einen bedeutend höheren Auftrieb liefern als Tragflächen ohne Wölbung. Zugleich stellte der Gelehrte die immer noch gültige Regel auf, jeden überflüssigen Widerstand zu vermeiden. Aber der Weg war noch lang. Neuen Entdeckungen folgten neue Rückschläge und Enttäuschungen, bis eines Tages endlich der Sprung des Menschen in den Luftraum gelang. Für den Segelflug geschah das hier, wo ich jetzt stehe, an den Hängen der Wasserkuppe in der Rhön.

Vielleicht lässt der steife Wind bald etwas nach, damit unter der Kraft der Sonne auch thermischer Aufwind entstehen kann. Etwas Geheimnisvolles umgibt diese vertikale Luftströmung. Immer wieder überfällt mich ungläubiges Staunen, wenn unvermittelt wie aus dem Nichts am blauen Himmel ein weißes Wölkchen entsteht. Ich beneide den Bussard, der die aufsteigende warme Luft auch ohne Wolkensignal findet und sich kreisend, ohne Flügelschlag, empor tragen lässt von dem himmlischen Fahrstuhl.

Beim Fliegen im norddeutschen Flachland habe ich den braun gefleckten Greifvogel als kundigen Freund und Fährtensucher schätzen gelernt. Sein Thermik verheißender Ruf treibt mich zur Eile, wenn ich auf dem Fluggelände draußen vor der Stadt Vorbereitungen für den Start meines Segelflugmodells treffe. Rascher lege ich dann die Hochstartleine aus und spanne sie so lange, bis sie straff ist wie eine Saite und das Gummiseil am anderen Ende fast zu reißen droht. Je schneller der Segler eine angemessene Höhe erreicht, desto wahrscheinlicher kann ich teilhaben am Spürsinn des Bussards. Nichts Schöneres als zusammen mit ihm in der Thermik zu kreisen. Mein Segler scheint ihn nicht zu stören und ich kann in Ruhe den Anblick genießen. Freude erfüllt mich und ein bisschen Stolz.

Was da am Himmel schwebt ist unter meinen Händen entstanden. Ungezählte Stunden habe ich am Baubrett verbracht, mit nichts Anderem zunächst vor mir als dünne Leisten aus Kiefernholz sowie Balsa- und Sperrholzbrettchen unterschiedlicher Dicke. Allmählich entstanden daraus Holme und Rippen und schließlich ein Tragflächenskelett, dem die Bespannung Festigkeit, Form und Elastizität verlieh. Für den Schriftsteller und versierten Piloten Antoine de Saint Exupéry war eine Sache dann vollkommen, wenn nichts mehr hinzugefügt aber auch nichts mehr weggenommen werden konnte. Das gilt auch für den Flugmodellbau. Überflüssiges Beiwerk schadet nur.

Wer dem uralten Menschheitstraum vom Fliegen nachhängt, erfährt nicht nur Einiges über die Symbiose zwischen Technik und Ästhetik, sondern er übt sich auch in einer Tugend, die es schwer hat im Alltag, die Geduld. Er braucht sie bei der Arbeit am Baubrett und auf dem Fluggelände, wo Wind und Wetter  Regie führen. In solchen Momenten gehe ich auf Distanz zu mir selbst und frage mich nach dem Sinn meines Tuns. Natürlich gibt es Wichtigeres und der milde Spott meiner Umwelt trifft mich zu Recht. Aber wen die Liebe zur Fliegerei einmal gepackt hat, der wird sie zeitlebens nicht los, auch wenn er aus gesundheitlichen oder anderen Gründen niemals ein Segelflugzeug selbst steuern kann. Er schwingt sich auf den Flügeln der Phantasie empor und erlebt in Gedanken den köstlichen Rausch des Dahingleitens auf den Wogen des Luftmeeres.

Hoch über der Rhön ziehen von Westen her Federwolken auf. Quer zum Bodenwind dehnen sich die weißen Schleier allmählich über das gesamte Firmament aus – Vorboten eines Wetterumschwungs. Schon morgen oder übermorgen werden Hügel und Berge in graue  Farben getaucht sein und tief hängende Regenwolken werden den Berg der Flieger umhüllen. Aber noch scheint die Sonne und aus dem Tal drängt weiterhin ein mächtiger Luftstrom heran. Er trägt meinen Segler immer noch auf sicheren Händen, doch die Hoffnung auf Thermik hat er verweht. Ich fliege ein Stück hinaus, aber der  Aufwind hat nur noch dicht am Hang seine ganze Dynamik. Deshalb lenke ich den weißen Vogel rasch zurück und lasse ihn Schleifen am Hang ziehen.

Die eleganten Bewegungen eines ferngelenkten Flugmodells täuschen leicht darüber hinweg, dass sie Erfahrung und Einfühlungsvermögen voraussetzen. Ohne Bruch und herbe Enttäuschungen eignet sich niemand die Fähigkeit an, so ein technisch anspruchsvolles Gerät zu beherrschen und heil wieder auf den Boden zu bringen. Ein bisschen was von Aerodynamik sollte man verstehen und Wetter-Erscheinungen rechtzeitig deuten können, nicht zu vergessen die Regeln des Luftrechts, die auch für Modellflieger gelten. Ihre Missachtung kann schwer wiegende Folgen haben. Insgesamt empfiehlt es sich, behutsam vorzugehen und sich nicht gleich an komplizierten Konstruktionen zu versuchen. Auf diese Weise sind Erfolge leichter zu erzielen und die Freude am Fliegen bleibt ungetrübt.

Geflogen werden kann an vielen Plätzen, sei es in der Ebene oder am Hang, aber die Wasserkuppe übt wegen ihres Symbolcharakters eine besondere Anziehungskraft aus.  Inzwischen steht dort ein Museum, das Besuchern aus aller Welt Einblick gewährt in die Anfänge dieser einzigartigen Sportart. Auch mich hat die Erinnerung an die Anfänge des Segelfluges hierher geführt. Aus den Wäldern ringsum steigt abendlicher Dunst. Gleich werde ich meinen Segler aus seinem Element holen. Sanft setzt er auf dem Boden auf. Stille umgibt mich.