Bildschirmfoto 2019 02 23 um 02.39.56Zwei Regisseure aus Israel sorgen an der 69. Berlinale für Kontroversen über Identität, Gemeinschaft – und ihre Nation

Susannah Edelbaum

Berlin (Weltexpresso)- An der 69. Berlinale standen gleich zwei für Israel zentrale Institutionen unter Beschuss: die Streitkräfte (IDF) und der legendäre Auslandsgeheimdienst Mossad. Die Kritik kam in beiden Fällen von israelischen Regisseuren, Yuval Adler und Nadav Lapid. Adlers Film «Die Agentin» lief außerhalb des offiziellen Wettbewerbs. Aber Lapid gewann mit seinem in Paris angesiedelten Spielfilm «Synonymes» den Goldenen Bären.

Adler und Lapid griffen unterschiedliche Themen auf. Aber sowohl die planlose Flucht des von seinem Militärdienst traumatisierten Protagonisten von «Synonymes» nach Paris als auch die weder jüdische noch israelische «Agentin» fokussieren letztlich auf Fragen über Identität und Zuge­hörigkeit. Und beide Filme dürften in Israel für Kontroversen sorgen.


Existenz in einer Zwischenwelt

Wie sein Protagonist Yoav (Darsteller Tom Mercier wird als eine der grossen Entdeckungen dieser Berlinale gehandelt), hat Lapid seine Heimat nach dem Dienst bei der IDF in Richtung Paris verlassen. In Berlin erklärte Lapid an einer ge­­meinsamen Pressekonferenz mit seinem Vater Haïm Lapid (beide haben das Drehbuch gemeinsam verfasst): «Mir ist es irgendwie ergangen wie Jeanne D’Arc, obwohl die Stimme in meinem Kopf kaum jene Gottes gewesen sein dürfte. Aber eines Tages, ungefähr ein Jahr nach Ende meiner Militärzeit, wurde mir plötzlich klar: Ich musste weg aus Israel. Ich musste mich retten und fortlaufen, irgendwohin – und nie wieder nach Israel zurückkehren.» Wie Yoav hat Lapid in Paris mit aller Macht versucht, ein Franzose zu werden. Er weigerte sich, Hebräisch zu sprechen, träumte von einem Tod an der Seine und einem Grab auf dem Friedhof Père Lachaise. Die Reaktion des israelischen Kultusministeriums auf diese Vision dürfte interessant sein – das Amt hat «Synonymes» gefördert.

Dabei betonte Lapid, sein Film sei keineswegs politisch: «Mich fasziniert eigentlich noch mehr, dass so viele junge Israeli nicht in Europa leben wollen, dass sie im Lande bleiben und gehorchen, sich also mit einer politischen Situation identifizieren, die inakzeptabel sein sollte. Aber mein Film vertritt keine politische Partei und nimmt nicht an Wahlen teil. ‹Synonymes› stellt den Versuch dar, über eine spezielle Existenz zu sprechen.» Und die ist mehr als schwierig. Yoav kommt ohne Geld an die Seine. Dort wird ihm gleich der Rucksack mit seinen Habseligkeiten gestohlen. Allerdings kommt er auf eine für den Zuschauer nicht nachvollziehbare Weise an ein Apartment. Es ist nur zu sehen, wie er unter einem Fussabstreifer davor den Türschlüssel hervorholt. Anschliessend ist Pasta Yoavs einzige Nahrung. Ein Job als Wachmann an der israelischen Botschaft bringt keine Verbesserung. Yoav wird die Stelle umgehend wieder los, als er die Menschen in einer endlosen Warteschlange hinein in die Botschaft holt und dabei ruft: «Keine Grenzen!» Gleichwohl schliesst er Freundschaften. Doch auch diese erlösen ihn nicht aus seiner Existenz in einer Zwischenwelt.


Enttäuschungen auf allen Seiten

Zunächst lernt Yoav ein wohlhabendes, gelangweiltes junges Paar kennen, das in der Etage über ihm lebt und ihn aus seiner eiskalten Wohnung rettet. Dort lag er zitternd in der Badewanne, die als Bett dienen soll. Émile und Caroline packen den Fremden in ihr eigenes Bett, kleiden ihn ein und bieten ihm Geld an. Émile wird sein bester Freund und Caroline zuerst seine Geliebte und dann auf Geheiss ihres Gatten Yoavs «Visa-Frau». Hier bleibt unverständlich, ob der Film Klischees aufspiessen will oder diesen erliegt. Jedenfalls wirkt es unglaubwürdig, dass Caroline beim ersten Blick auf den nackten, halbtoten und mit einem Lippenring verunzierten Yoav gewusst haben will, dass die beiden miteinander schlafen werden.

Die zweite Beziehung wird jene zu Yaron. Er wirkt als Antipode zu dem stillen Yoav und konfrontiert den Zuschauer mit einer unbequemen Variante jüdischen Auftretens. Yaron ist laut und drängt sich jedem mit seine Identität als Jude und Israeli auf. Er spricht überall Hebräisch, teilt Bar-Besuchern ungefragt mit, er sei jüdisch, und setzt für Metro-Fahrten eine Kippa auf. Dabei summt er gequält dreinschauenden Passagieren israelische Lieder ins Gesicht. Yoav nimmt Yaron zur israelischen Botschaft, und dort lässt ihn der Film zurück. Dies ist typisch für die narrativen Sprünge von «Syno­nymes». Yaron mag besser als symbolische Figur begreifbar sein – womöglich soll er als physische Manifestation der schlimmsten Ängste des Protagonisten dienen, die dieser zu unterdrücken sucht. Realistisch wirkt dieser Yaron jedenfalls kaum.

Yoav ist dagegen meist still. Bestenfalls murmelt er die titelgebenden, französischen Synonyme vor sich hin. Es bedarf äußerer Anstösse, um ihn zum Sprechen zu bringen. So gegenüber einem Porno-Regisseur, der ihn für Solo-Auftritte anheuert. Oder wenn er Caroline sein Missfallen an ihrem Oboe-Spiel mit einem lokalen Orchester bekundet. Dem von einer Schriftstellerkarriere träumende Émile bietet Yoav seine eigenen Ge­­schichten an, doch nur, um diese wieder zurückzufordern. Haïm Lapid sagte dazu: «Kommen Juden in Kontakt mit der nicht jüdischen Bevölkerung, dann läuft ein gewisser Prozess ab. Der kann beide Seiten bereichern. Aber wie in unserem Film kann das auch zu Enttäuschungen führen.» Yoav hat sein Mutterland verstossen. Aber ganz wird er Israel nicht los. Von dort scheint ihm ein Trauma anzuhängen, das ungenannt bleibt und ihn immer wieder zum Ausrasten bringt. So kann sich Yoav weder wirklich in seine Wahlheimat einfügen, noch können ihm die neuen Freunde dort nahe kommen. Am Ende stehen Enttäuschungen auf allen Seiten.


Eine verhängnisvolle Geschichte

Dieses Gefühl treibt auch die gleichfalls in einer gescheiterten Suche nach Zugehörigkeit gipfelnde Handlung von «Die Agentin» an: Die neu beim Mossad eingetretene Agent Rachel (Diane Kruger) hat eine «seltsame Biografie», die ihren Vorgesetzten anscheinend keine Ruhe lässt. Sie ist hier und dort aufgewachsen, klingt wie eine Amerikanerin und ist keine, hat nur einen jüdischen Vorfahren unter den Grosseltern und scheint doch entschlossen, ihre Gemeinschaft ausgerechnet in den Reihen des israelischen Geheimdienstes zu finden. Dort bringt sie gute Leistungen und wird als Sprachlehrerin getarnt in Teheran stationiert. Der Film basiert auf dem Roman «The English Teacher» des ehemaligen Geheimdienstlers Yiftach Reicher Atir. Doch Adler macht daraus keinesfalls einen «Jason Bourne»-Thriller mit einer weiblichen Spionin aus Israel.

Stattdessen geben Rachels Arbeit und die da­durch geschaffenen Probleme für ihren Leitagenten Thomas (Martin Freeman) den Hintergrund für eine Suche nach Gemeinschaft und einer tiefer gehenden Partnerbeziehung mit überraschenden Wendungen. Dabei ist auch Thomas kein Israeli, sondern ein britischer Jude mit deutschem Wohnsitz. Seine Vorgesetzten behandeln ihn als Außenseiter. Allmählich wird klar, dass der Mossad ein übles Spiel mit ihr betreibt. Nachdem sich Rachel in den iranischen Geschäftsmann Farhad­(Cas Anvar) verliebt hat, den sie eigentlich ausspionieren soll, nehmen die Dinge für sie und Thomas einen verhängnisvollen Verlauf.


Liebe ohne Rückhalt

Wie Lapid verdeutlicht Adler die Einsamkeit seiner Protagonisten mit Sprache. Unterdrückt Yoav das Hebräisch für Französisch und stiehlt zur Übung der neuen Sprache ein Wörterbuch, so spricht Rachel ebenfalls kein Hebräisch. Thomas versteht dieses zwar, antwortet seinen Mossad-Kollegen jedoch auf Englisch. Adler sagte dazu in Berlin: «Wenn du in Amerika mit einem Akzent sprichst, sagen die Einheimischen: ‹Oh das ist so cool.› Israeli­ halten dich dagegen für einen Idioten. Das ist schon ziemlich krank.» Als Spion und Agentenführer sind Rachel und Thomas beide Außen­seiter. Sie sind ihrer isolierten Identität auf eine Weise verhaftet, die von den «echten» Mossad-Agenten in brutaler Weise ausgebeutet wird, nachdem Rachel ihre Pflichten vergessen hat. Adler sieht in diesem Verhalten auf beiden Seiten keine Überraschung: «Geheimdienste nutzen für ihre Zwecke jedes Mittel. Da macht der israelische keine Ausnahmen. Der Film zeigt eine Spannung zwischen Profis und Nicht-Professionellen, die manipuliert werden. Aber dieses Muster läuft zwischen Spionen und Nicht-Spionen allerorten ab.»


Für beide Regisseure stellen die Nöte ihrer Charaktere ein natürliches Resultat sowohl ihrer Entscheidungen als auch des israelischen Einflusses im Ausland dar. Nur sind die Folgen für Rachel professioneller, für Yoav persönlicher Natur. Während Rachel ihre Identität als Agentin aufgibt, wirft Yoav seine Nationalität ab. Und doch sind beide bereit, für diese Distanzierung nahezu jeden Preis zu zahlen. «Ich betrachte Israel als ein Land, das totale Liebe von dir verlangt, eine Liebe ohne Rückhalt, ohne Zweifel und Fragen. Israel fordert totale Loyalität, totale Treue», sagte dazu Lapid, «womöglich ist die Ablösung von dieser Identität gerade deshalb so schwierig – und der einzige Weg dazu könnten schroffe Demonstrationen von Gewalt und Wut sein.»

Foto:
© tachles

Info:
Der Film «Synonymes» wurde an der Berlinale mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 22. Februar 2019