hwk marighellaBERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 22

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Mitten im Film, wenn man gerade gruselig und voller Spannung dem Geschehen dieses Thrillers folgt, dann überzieht einen mit der Gänsehaut auch ein Schmerz: nein, das ist kein Thriller, keine ausgedachte Geschichte, keine Fiktion, das ist die nachträgliche Rekonstruierung eines brasilianischen Aufstandes, den der Staat 1968/69 brutal, d.h. mit Tod und Folter niedergeschlagen, die Aufständischen meist ermordet hat, und zuvorderst ihren Anführer Carlos Marighella, dem Seu Jorge eindrucksvoll Gestalt und Geist gibt.

Daß Filmemacher Wagner Moura eigentlich Schauspieler ist und hier seinen ersten Film vorlegt, darauf wäre man nicht gekommen, so gekonnt ist die Handlung auf der Leinwand wie in eine Shakespearetragödie gegossen. Der Film folgt den wirklichen Ereignissen und auch den polizeiliche Gegenspieler der aufständischen Gruppe, Lúcio (ebenfalls sehr eindrucksvoll in seiner Unmenschlichkeit, seinem Verfolgungswahn: Bruno Gagliasso) hat es wirklich gegeben. Inszeniert sind viele der Szenen, schon deshalb, weil man vom Binnenleben der Gruppe wenig weiß, die ja ausgelöscht wurde.

Nein, der brasilianische Staat will überhaupt kein Rechtsstaat sein, er will das Gewaltmonopol wie ein absoluter Monarch ausüben, er will seine Bürger einschüchtern und auf jeden Fall deutlich machen, wer nicht für die Militärdiktatur ist, ist gegen sie. Denn 1968 sind diese Verbrecher schon vier Jahre an der Macht - natürlich mit Unterstützung der CIA, denn die USA hatten überall in Lateinamerika ihre wirtschaftlichen und politischen Sonderinteressen - und es wird bis 1985 dauern, bis aus innerer Schwäche heraus dieses System zusammenkracht. Präsident Lula da Silva wird erst 2010 mit der Brasilianischen Wahrheitskommission staatlicherseits versuchen, das Unrecht dieser Zeit zumindest feststellen zu lassen, wenn es schon nicht geheilt werden kann. Die Menschen sind tot, ihr Andenken nicht vorhanden, denn sie sollten ja mit ihren Ideen ausgelöscht werden. Filme sind eben auch gesellschaftliche Erinnerungsarbeit. Können es sein.

Dieser Film ist auf jeden Fall ist der Versuch, die schmähliche Vergangenheit wieder in Erinnerung zu rufen. Das Brisante an dieser Situation ist, daß der gegenwärtige, gerade mit den Stimmen der Bevölkerung gewählte neue Präsident Jair Bolsonaro gerade das rechtsradikale Pack wieder in den Sattel hebt, denn er ist voller Bewunderung für die Zeiten der Militärdiktatur und die damaligen Mittel der Politik.

Der Film kommt also zur rechten Zeit. Allerdings muß man jetzt erst einmal sehen, ob er in Brasilien zugelassen wird. Die Produzenten und das gesamte Produktionsteam auf jeden Fall wollen eine doppelte Strategie fahren: er soll in die Kinos kommen und auch Teile der Produktionskosten einspielen. Dieser Film soll aber auch umsonst in Schulen und Hochschulen, in Gemeindezentren und überall dort gezeigt werden, wo Aufklärung erwünscht ist.

Das Geschehen folgt einer inneren Logik von aufständischen Gruppen, die immer gegenwärtig sein müssen, daß einer den Druck nicht aushält und zum Verräter wird, denn Angst kann aus Menschen genauso Monster machen wie Macht es tut, die Ungeheuer gebiert. Eine geradezu elegante und psychologisch einsichtige Schleife erzeugt das Drehbuch, wenn noch ziemlich am Anfang Marighella dem Mitverschwörer (oder übernehmen wir hier schon die Sprache der Verfolger, sollten wir lieber vom Mitfreiheitshelden sprechen), dem Vater von drei Kindern ins Gewissen redet, er solle seine Familie nicht kontaktieren, er würde sie dadurch in Gefahr bringen, und genau diese Situation zu Ende des Films eintritt, wenn Marighella seinen Sohn über ein angeblich sicheren personellen Kontakt an eine bestimmte Stelle bestellt. Doch sein Sohn wird überwacht, der Kontaktmann gefoltert, so daß der Priester, der geholfen hat – da gibt es auch viel zu lachen in der Kommunikation – entdeckt wird, ebenfalls gefoltert wird und in einem Telefongespräch Marighella bestätigt, daß sein Sohn dort auf ihn wartet, die Geheimpolizei und der widerliche Lúcio hören das mit und der Zusammenbruch der zum Verräter gewordenen Priesters interessiert keinen mehr. Er hatte seine Funktion für die staatlichen Teufel erfüllt.

Ein gnadenloser Film, der einen schaudern läßt, was in Brasilien war und wieder kommen könnte und der mit dem Polizisten Lúcio (Bruno Gagliasso) einen Menschentyp, einen Regimeschergen vorführt, wie es sie gibt und die immer die schlimmsten sind. Es braucht solche Filme und mutige Menschen, die die Vergangenheit auf die Leinwand bringen, auch wenn die Hoffnung auf Aufklärung als ein Instrument, Menschen für sich selbst verantwortlich zu machen und nicht als Herdentier für Machthaber gering bleibt. Auf jeden Fall war nicht nur der Film, sondern auch das Auftreten der ganzen Mannschaft zur Pressekonferenz eindrucksvoll.

Foto:
Das Foto des Hauptdarstellers Seu Jorge ist zwar von der Pressekonferenz, aber er zeigt dort das gleiche verschlossene, entschlossene Gesicht wie im Film. Sehr eindrucksvoll.
© hwk

Info:
Seu Jorge    Marighella
Adanilo        Danilo
Adriana Esteves    Clara
Ana Paula Bouzas Maria
Bruno Gagliasso    Lúcio
Bella Camero         Bella
Carla Ribas            Gorete
Charles Paraventi  Bob
Guilherme Ferraz     Guilherme
Warum der Film außer Konkurrenz lief, wissen wir nicht.