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Kategorie: Berlinale 2019
berl19 garethZusammenfassung Berlinale 2019: 2

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Es gibt noch das Erzählkino in ganz großem Stil. In den vergangenen Jahren fand es sich vorzugsweise in Cannes und Venedig, aber diesmal überragt ein schon seitens der Kamera bestechendes Meisterwerk den Wettbewerb der 69. Berlinale: „Mr. Jones“ von Agnieszka Holland.

Die polnische Altmeisterin, die zuletzt 2017 auf der Berlinale für ihren aufwühlenden Tierschützerfilm „Die Spur“ einen Silbernen Bären gewann, widmet sich diesmal einem bislang wenig aufgearbeiteten Kapitel des Stalinismus.

Ihren Helden, den britischen Journalisten und Wahrheitssucher Gareth Jones, hat es wirklich gegeben. Kurz nachdem er den gerade an die Macht gekommenen Adolf Hitler während einer Flugreise interviewt hat, will er 1933, irritiert über den vermeintlich wirtschaftlichen Boom, ein Gespräch mit Josef Stalin führen. Aber die Recherchen gestalten sich schwierig. Im Moskauer Hotel Metropol, in dem alle internationale Korrespondenten einquartiert werden, lernt er den Pulitzerpreisträger Walter Duranty kennen, der für die „New York Times“ schreibt, aber kein Interesse an kritischem Journalismus zu haben scheint, sich lieber auf Partys amüsiert und ein Reiseverbot in die Ukraine verhängt.

Jones erfährt auch, dass unlängst ein Kollege ermordet wurde, der schockierenden Geheimnissen auf die Spur kam, reist aber trotzdem, getarnt als russischer Diplomat in die winterlich verschneite Ukraine. Dort wird er eines Elends ungeahnter Ausmaße ansichtig, der aus Stalins Zwangskollektivierung resultierenden, wenn nicht gar vorsätzlichen Hungersnot in den Jahren 1932/33, die Millionen Tote forderte.

Holland findet dafür beklemmende Bilder, die tief unter die Haut gehen: Leichen liegen nackt auf endlos weiten Schneefeldern, leblose Körper stapeln sich auf Schubkarren, die, die noch einen Kanten Brot zu vergeben haben, schlagen Hungernde in langen Warteschlangen zusammen, sogar Kinder macht die Not zu Kannibalen.

Selbst dunkel ausgeleuchtete Bilder in Scheunen oder in einem Zugwaggon mit zusammengepferchten Menschen zeugen von großer Tiefenschärfe, und auch der sich auf dezente düstere Klänge reduzierende Soundtrack wirkt mit großem Feingespür auf jede einzelne Szene abgestimmt.

Doch „Mr. Jones“ ist nicht nur ein Drama gegen die Geschichtsvergessenheit, sondern zugleich- und das macht ihn zu einem zeitlosen Werk- ein Mahnmal gegen journalistische Verfehlungen und Falschberichte. Schließlich aufgegriffen und in den Westen zurückgeschickt, muss Jones bitter erfahren, dass ihm niemand glaubt. Duranty, der stets stalinfreundliche Berichte verfasste und den Holodomor abstritt, stellt ihn in der „New York Times“ als Schwindler hin. Unweigerlich denkt man da an Claas Relotius, nur durfte Duranty im Gegensatz zu ihm seinen Pulitzerpreis trotz Lügenmärchen behalten.

Mit dem französischen Beitrag „Gott sei gelobt“ von Francois Ozon präsentierte die Berlinale einen weiteren aktuellen Beitrag zu sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Allerdings ist dies mehr ein Protokoll mit sehr hohem Wortanteil als ein Film. Ozon bezieht sich auf die wahre Geschichte des Lyoner Paters Preynat, der 2016 angeklagt wurde, sich an 70 Jungen vergangen zu haben und seine Opfer noch nicht einmal um Vergebung gebeten hat. Er gibt drei männlichen Missbrauchsopfern eine Stimme, die sich zusammentun, um auf juristischem Wege gegen das Schweigekartell der Kirche vorzugehen, die sich zu den Verbrechen nicht schuldig bekennt, den Opfern ihre Hilfe verweigerte und keine weitreichenden Konsequenzen aus den Skandalen zieht. Ergebnis ist eine überzeugende, zornige Anklage wenige Wochen vor dem bevorstehenden realen Gerichtsprozess gegen Preynat, die aber, nüchtern aufbereitet, wenig berührt.

Foto:
Mr. Jones (2019)
©IMDb