berl hollandBERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 10

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Auf die Idee, den herrlich komponierten Film GOTT EXISTIERT. SIE IST PETRUYA als einen ‚kleinen‘ Film zu bezeichnen, sind wir erst gekommen, als am gleichen Tag, dem gestrigen Sonntag, am Nachmittag der Film von Agnieszka Holland lief, der die uns kaum bekannte Hungerkatastrophe, HOLODOMOR, ukrainisch: Tötung durch Hunger, in der sowjetischen Ukraine zum Inhalt hatte, wo aus menschengemachten Gründen durch Hunger vier Millionen Menschen starben, manche sprechen sogar von über 14 Millionen Toten. Ursache sei die überhastet vorgenommene Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in Kolchosen und Sowchosen durch Stalin 1932/33, wobei sogar Stalin unterstellt wird, er habe diese Hungersnot absichtlich herbeigeführt, um das ukrainische Volk zu bestrafen und abhängig zu machen, also ein Völkermord.

Die geschichtliche Forschung zum HOLODOMOR läuft und dieser Film hat uns so aufgerüttelt, daß wir dem nachgehen wollen. Im Film jedoch geht es nicht um geschichtliche Erkenntnisse, sondern um das, was der walisische Reporter Gareth Jones in Gang setzt und erlebt. Der Film selbst beginnt jedoch ganz anders. Wir sehen wogende Ähren und denken sofort, ach, wieder ein Naturfilm, denn Landschaft und hier insbesondere weite Blicke ins Grün sind ein Zeichen der diesjährigen Wettbewerbsfilme. Sofort kommen noch Schweine ins Bild und wir erkennen ein großes Gut vor uns, aber da sitzt dieser Mann an einer Schreibmaschine und denkt und schreibt und denkt. Man liest die Sätze, die er schreibt und später weiß man, daß es George Orwell ist, der hier wie besessen in die Tasten hämmert. Er soll sein DIE FARM DER TIERE nach Gesprächen mit Jones konzipiert und geschrieben haben

Doch dann sind wir im Zentrum der Geschichte, die drei Orte hat: London und die Beratertätigkeit von Jones für den ehemaligen Premierminister David Lloyd George, Moskau mit der Absicht eines Interviews mit Stalin, was jedoch nur zu Gesprächen mit dem Doyen der Auslandsjournalisten in Moskau, Walter Duranty (Peter Sarsgaard)führt, der ob seiner Berichterstattung aus der Sowjetunion den Pulitzerpreis erhalten hatte, der sich aber als gekauft, bzw. als Instrument Stalins zeigt, weshalb Jones in die Ukraine flüchtet, wo er mit eigenen Augen sehen will, was los ist. Ihn treiben die positiven Zahlen, die die Sowjetunion über den Aufbau des Landes weitergeben. Er kann sich die Produktivität aus dem Nichts nicht erklären und will alles genau wissen. Doch, was er im tiefsten Winter in weiten Schneelandschaften erfährt, sind menschliche Katastrophen in einem Ausmaß, das einen nur noch das Grauen packen kann. Überall liegen verhungerte Menschen herum, es gibt nicht mehr genug kräftige Menschen, die die Toten beerdigen können, zudem kommt es zu Kannibalismus, was im Film dadurch gezeigt wird, daß die jüngeren Geschwister dankbar vom älteren Bruder sprechen, was Jones erst nicht versteht und dann, als er den Toten sieht und die Gliedmaße, die ihm fehlen, sofort sein Essen herauskotzt.

In Moskau zurück bespricht er das mit Ada Brooks (Vanessa Kirby), die seinem Freund nahestand, der von der sowjetischen Staatsmacht ermordet wurde, auch wenn von Raubmord gesprochen wurde. Walter Duranty erweist sich abermals als Abwiegler und wird fürs Erste viele überzeugen, daß Mr. Jones geltungssüchtig ist und Unwahrheiten verbreitet. Tatsächlich wird er nirgends ernst genommen. Erst als Jones mit dem Medienmogul William Randolph Hearst zusammentrifft, ihn von der Wahrheit seiner Erzählungen aus der Ukraine überzeugt, auch die Bilder, die er geknipst hatte, zeigen kann, wendet sich das Blatt. Nun können die furchtbaren Tatsachen des HOLODOMOR der Welt nicht mehr verschwiegen werden. Und viele Artikel befassen sich weltweit mit den Auswirkungen der Politik Stalins auf die Bevölkerung der Ukraine. Die Wahrheit ist also durch den Einsatz von Gareth Jones ans Licht gekommen.

Im Abspann erfahren wir dann, daß Jones schon zwei Jahre später in Asien ermordet wurde.

Kameramann Tomasz Naumiuk arbeitet dualistisch. Zum einen ist das der weite Blick über Felder oder Schneegebiete, was dann in der winterlichen Landschaft der Ukraine zu unendlichen Schneebildern wird, die allerdings alle – und das mit Absicht, wie Agnieszka Holland betont – in blaßen Winterfarben wie gemalt wirken, wie übertüncht, schön, aber auch unheimlich, was die meist gefrorenen oder zugewehten Toten bestärken.

Ein beeindruckender geschichtlicher Film, der dennoch Fragen läßt. Denn im Film wird Gareth Jones als der unterdrückte Reporter dargestellt, der einem Schweigekartell den Kampf ansagt und die Wahrheit ans Licht bringt. Schon am Anfang wird die starke Stellung von Jones damit erklärt, daß er dicht nach der Machtübernahme mit Hitler am 23. Februar 1933 ein Interview führte, das während des Fluges einer Junkers von Berlin nach Frankfurt am Main stattfand, das er veröffentlichte und wodurch er bekannt wurde. Ein solches Interview will er in Moskau mit Stalin führen, was ihm verweigert wird. Im Film tritt er als aufrechter Demokrat auf, ein Vorbild für das, was eine Recherche ausmacht, die die Wahrheit ans Licht bringen will.

Beim kurzen Nachlesen der biographischen Angaben über Gareth Jones stellt sich ein anderer Zusammenhang her. Da wird davon gesprochen, daß er die Nähe zu den Nationalsozialisten suchte, dort eine Heimat fand. Sein Arbeitgeber war nicht die englische Presse, sondern hauptsächlich das Berliner Tageblatt. Hier gilt es also, diesen Mr. Jones stärker zu durchleuchten. Aber das hat nur mit seiner Präsentation als Held für diesen Film zu tun. Den Sachverhalt der Hungerkatastrophe so nachdrücklich in die Welt zu bringen und damit auch nach den Ursachen zu fragen, bleibt das historische Verdienst von Gareth Jones, was dieser Film von Agnieszka Holland heraushebt.

Foto:
(c) 

Info:
Darsteller
Gereth Jones – James Norton
Ada Brooks – Vanessa Kirby
Walter Duranty – Peter Sarsgaard
George Orwell – Joseph Mawle