berl19 1BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 1

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Nein, in der Haut von Clara möchte man nicht stecken. Sie packt ihre beiden Jungens ins Auto und fährt ins winterliche New York. Schon lange wollten die Kinder den Riesenmoloch sehen und sie gaukelt ihnen eine Abenteuerreise vor. Dabei hat sie vor, nie wieder nach Hause zu dem gewalttätigen Vater und Ehemann zurückzukehren.

Ist nicht das Wort ‚gewalttätig‘ fast zu abstrakt, um zu beschreiben, was dieser Vater mit seinen Schlägen erst der Frau, dann den Kindern, dann seinem Vater in New York antut. Zum Großvater der Kinder fährt Clara zuerst. Doch der will sofort seinen Sohn anrufen, ihnen weder Unterkunft noch Geld geben, weshalb Clara schnell mit den Enkeln flüchtet. Es ist eine der Listen des Films, daß dem Schwiegervater sein Verhalten teuer zu stehen kommt. Denn, nachdem der Vater die drei in New York aufspürt, sie ihm aber wieder entwischen, will er seinen Vater in seine Verfolgung miteinbeziehen, was der nicht will und brutal vom eigenen Sohn mit dem Telefon zusammengeschlagen wird.

Zeit, um über den Beruf des Vaters zu informieren. Immer wieder sagen nämlich die Leute zu Clara: „Gehen Sie doch zur Polizei!“, worauf die antwortet: „Mein Mann ist die Polizei.“ Und wenn wir von Listen sprachen, ist eine weitere, diesen Ehemann als kreuzbrav und nett aussehenden Polizisten auf die Leinwand zu bringen, einen positiven amerikanischen Durchschnittstyp. Doch wir sind längst gewarnt, denn, wenn Ehefrauen ihre Männer beschuldigen, ist das das Eine, doch wenn Kinder von den Schlägen des Vaters sprechen, ist das das andere. Kinder gehen vor, zumal die bodenlose Gemeinheit des Vaters insbesondere darin besteht, daß er den Älteren zwang, den jüngeren Bruder zu schlagen, andernfalls werde er selbst schlimm verprügelt – und dieser tat es und sein geschlagener kleiner Bruder tröstet ihn noch und sagt, er hätte genauso gehandelt.

Doch haben wir mit Clara und ihren Kindern nur die Hauptprotagonistin dieses Films, denn eine weitere List ist es, wie Lone Scherfig, mit deren Filmen Dieter Kosslick seine erste Berlinale begann und nun seine letzte beendet und die insbesondere durch ITALIENISCH FÜR ANFÄNGER berühmt wurde, wie diese Regisseurin also ihr übriges Filmpersonal in den gemeinsamen Zusammenhang bringt, in einer dramatischen Handlung zusammenführt. Zwar könnte man die Geschichte von Clara weitererzählen und alle Personen kämen darin vor. Aber der Film ist anders gestrickt. Denn Lone Scherfig bringt erst einmal eigenständige Personen mit ihren Geschichten ins Bild, das sind neben Clara (Zoe Kazani): die Krankenschwester und Engel für Arme, Alice (Andrea Riseborough),der Ex-Häftling Marc (Tahar Rahim) und sein Anwalt John Peter (Jay Baruchel), der Versager Jeff (Caleb Landry Jones) und Timofey (Bill Nighy), der den New Yorker Winter Palace, ein urrussischer Etablissement nach dem Fall der Sowjetunion geerbt hatte.

Diese Vergnügungsstätte – Bar, Restaurant, Tanz – spielt ebenso eine Hauptrolle wie der Raum in der Kirche, in der Alice mildtätig, aber mit scharfem Blick in die Seelen der Anwesenden, einen Gesprächskreis leitet, der schlicht, aber durchschlagend: VERGEBUNG heißt. Es geht den Anwesenden ums Vergeben, wenigstens sollte es ihnen darum gehen, wobei es in erster Linie darum geht, was sie sich selber vergeben skönnen. Dem Ex-Knacki Marc beispielsweise, daß es ihm nicht gelang, seinen drogenabhängigen Bruder vor dem Tod zu bewahren, aber für ihn ins Gefängnis ging.

Winterpalast und Gesprächskreis sind die zwei zentralen Stätten des Films, aber hinzu kommen neben dem Auto, in dem Clara erst fährt, dann mit den Kindern schläft, die Bücherei, wo man ins Internet kann, die Wohnung von Marc in den oberen Geschossen vom Winterpalast. Denn, längst hat ja eine weitere List der Drehbuchautorin Lone Scherfig zugeschlagen. Durch Zufall wird Marc, nach einer Besäufnistour mit seinem Anwalt im russischen Restaurant, vom Besitzer für einen Angestellten gehalten, der den Weisungen des Amerikanisch mir stark russischem Akzent sprechenden Timofey so gut folgt, daß er diesen dann wirklich einstellt. Erst als Kellner, dann als Geschäftsführer. Und später hören wir von Timofey in gepflegtem Englisch, daß er natürlich kein Russe ist, diese Rolle aber erfolgreich spielt, denn der russische Akzent muß sein, um all die Exilrussen als Gäste anzulocken, was wiederum für das mondäne New York attraktiv ist, die ebenfalls kommen. Hier wird mit Parodien gespielt, die aber einen historischen Unterton haben, denn es geht um die Hoffnungen, die einst der Sowjetunion galten, mit ihren Idealen einen besseren Ort für Menschen zu schaffen. Liebevoll und menschlich.

Und ein Wort noch zum Underdog, zum ewig versagenden Jeff. Auch aus ihm, der überall rausfliegt und sich auch immer wieder als unfähig erweist, auch aus ihm macht Alice, die gute Seele, einen fürsorglichen jungen Mann, der seinen Weg findet. Alle diese Personen verwickelt die Handlung in ein Miteinander, das so kunstvoll – wir sagen lieber: listig – gestrickt ist, daß sich die Handlung wie von alleine schreibt. Ja, der schlimme Vater wird ausgerechnet von seinem Sohn überführt, der auf dessen Rechner die schlimmsten Gewaltvideos entdeckte, die Mutter kann erfolgreich die Scheidung einreichen...kurz vor dem Ende dachten wir, jetzt sollte Schluß sein und kein Happy End. Doch das kommt und hat dann auch Argumente für sich. Der ganze Film ist nicht die lebensnahe Geschichte dieser Leute, sondern der Film zeigt ihre Haltung, ihre Haltungen, die sich darin äußern, daß hier die Ärmsten der Armen selbstlos einander helfen. Ohne die Suppenküche – auch hier ist Alice am Werk – würden sie nicht nur nicht überleben, sondern auch voneinander nichts wissen. So aber ziehen sie an einem Strick, ein Verhalten, das eigentlich schon Karl Marx der Arbeiterklasse als hilfreich andiente. Solidarisch zu sein, wird in diesem New York der Armen die Voraussetzung fürs eigene Überleben, wo es nicht nur um Brot, sondern auch um die Seele geht.

Deshalb fanden wir den Film trotz Happy End überhaupt nicht kitschig, sondern ein wohltuendes Märchen in einer Welt, die zerstritten und feindselig ist wie lange nicht mehr. Und deshalb sind wir auch nicht gegen die alles zusammenführende Kraft der Musik, die im Film reichlich die Sentiments unterstützt. Als in einer gewissen Szene die Moldau von Smetana auftauchte, dachte ich erst, nein, das ist jetzt zuviel. Aber nimmt man ernst, daß hier kein Schicksalsfilm gezeigt wird, sondern eher eine Parabel über das Sein in dieser harten Welt und die nötige Güte, die wir anderen und uns selbst gegenüber aufbringen müssen, statt egoistisch den eigenen Stiefel zu bedienen, dann stimmt es wieder. Dann kann die Musik gar nicht gefühlvoll genug und nicht heilsam genug sein.

Fotos:
The Kindness of Strangers
Wettbewerb 2019
DNK/CAN/SWE/DEU/FRA 2019
von: Lone Scherfig
Zoe Kazan, Tahar Rahim
© Per Arnesen

The Kindness of Strangers
Wettbewerb 2019
DNK/CAN/SWE/DEU/FRA 2019
von: Lone Scherfig
Caleb Landry Jones, Andrea Riseborough
© Per Arnesen© Verleih



Info:
The Kindness of Strangers Written and Directed by LONE SCHERFIG
Darsteller
ZOE KAZAN ANDREA RISEBOROUGH TAHAR RAHIM CALEB LANDRY JONES with JAY BARUCHEL and BILL NIGHY

WORLD PREMIERE – 69TH BERLIN INTERNATIONAL FILM FESTIVAL