Stolperstein Anna Lehnkering1'Die Grauen Busse‘ sind ein Mahnmal für das Stabbrechen des Menschen über die eigene Art  Teil 4/4

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Rassistische und in vielerlei Hinsicht ausgrenzende Denkmuster waren das Kennzeichen des Nationalsozialismus. Das amtlich begleitete und umfassend exekutierte Denkmuster war keine Erfindung der Nazis. Es war etabliert im Zeichen eines verbreiteten Sozialdarwinismus.

Dieser war schon lange herabgesunkenes Kulturgut. Lange noch nach 1945 konnten sich Schulklassen mit erklärten Rassisten und Sozialdarwinisten konfrontiert sehen und mussten mit ihnen in den offenen Streit gehen. Darwin selbst vertrat keinen Sozialdarwinismus, er beschrieb nur die Entwicklung der Arten.

Gedenktafeln für die Opfer des Rassismus wurden bis in jüngste Zeiten an den Gesundheitsämtern erst nach eingehender Anmahnung durch Initiativen angebracht, so auch in Frankfurt. Es gibt noch heute die Ausgrenzung und Marginalisierung von Menschen mit Handikap. Das sind die Nachwirkungen der Ausdrucksweise vom „Schädling am gesunden Volkskörper“. Die Nazis hatten eine Gesellschaft der Denunzianten errichtet. Mitmenschen wurden nach Merkmalen des Körperbaus, des sozialen Verhaltens, der Charaktereigenschaften und nach Zuschreibungen wie leichtsinnig, eigenartig, gutmütig, widersetzlich oder auch linkshändig gescannt. Diese Vorgehensweise ist noch immer in den Köpfen. Und stets dräut im Hintergrund das Kosten-Nutzen-Prinzip der Ökonomie.

Die Nazis waren mordgeil und hatten nur eine Gehirnkammer zur Verfügung

Nach dem Tod des Vaters ist Anna alleine. Wer mag ermessen, wie sehr sie der Tod ihrer zentralen Bezugsperson getroffen hat. Ihre Mutter arbeitet viel. Ihre Brüder sind viel draußen oder in der Schule, wo sie zu Nazis erzogen werden. Bei Anna wird, nach heutigem Sprachgebrauch, eine nervöse Störung festgestellt. Sie ist lern- und lesebehindert, neigt zur Unruhe. Die Patientenakte aber stellt sogleich auf seelische Abnormität ab, die Pauschaldiagnose lautet auf Schwachsinn. Man vermutet, dass die Alkoholabhängigkeit des Vaters verursachend für ihren Zustand sei, was nie bewiesen wurde.

Gesundheitliche Schwächen sollten kein Makel sein, sie sind auch häufiger als viele denken. Sie dürfen keine Rechtfertigung für Ablehnung sein. Die positive Herangehensweise an verborgene Fähigkeiten und Talente ist die beste Therapie. Es gab damals aber nur Schwarz oder Weiß für die Beurteilung eines Menschen. Es gab nur Entweder-oder, Ja-oder-nein, Dafür-oder-dagegen, es galt das disjunktive Ausschließungsdenken. Der Ungeist der Zeit war das Stabbrechen.

Eine sehr betagte Dame von robuster Natur, die im Sterben lag, richtete sich einst auf und stieß ein Stoßgebet hervor: ‚Oh mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Ich hab‘ es doch nur gut gemeint!‘ – Sie war in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Sozial- und Gesundheitspflege eingesetzt, übte diese Tätigkeit auch nach 1945 aus. Über jene Zeit hat sie nie offen geredet. Sie war amtlich streng und brüsk. Über den Kadavergehorsam der Soldaten und schlussendlich Gefallenen meinte sie: ‚Was hätten die denn tun sollen?‘

Die berühmt-berüchtigten Schemabriefe

Anna hatte zu jener Zeit keine Chance auf ein behütetes Leben. Über sie war der Stab gebrochen. Sie stirbt mit nur 24 Jahren in der Tötungsanstalt Grafeneck. Nach dem Vollzug wird den Hinterbliebenen ein Schemabrief gesendet, der den Tod in verwaltungstechnischer deutscher Sprache bemäntelt. Immer wurde mit diesen Schreiben eine kriminelle Tötungsorgie verschleiert. Anna wurde wahrscheinlich schon am Tag ihrer Ankunft umgebracht. Denn es war üblich, Ankommende laufend zu töten. Hierin war ein Horst Schumann (1906-1983) maßgeblich, er war der Tötungsarzt in den ‚Euthanasie‘-Anstalten Grafeneck und Pirna-Sonnenstein, auch war er KZ-Arzt in Auschwitz. Die Tötungen in den Anstalten waren die Blaupause für den industriell organisierten Massenmord in Treblinka, Sobibor, Majdanek, Belzec, Theresienstadt und Auschwitz.

Über Anna wurde nach ihrem Tod nicht mehr gesprochen. Ein Thema wie dieses wurde in vielen Familien tabuisiert, aus Scham und weil es als familiäres Stigma und Makel erschien. Anna hat 2009 in Mühlheim an der Ruhr einen Stolperstein bekommen. Auch ihr Bruder konnte endlich zu sich sagen: „Ich hatte eine Schwester, die geistig behindert war.“ Wenige Tage danach starb er und Sigrid Falkenstein verlor ihren Vater.

Auch Ärzte waren Schreibtischtäter

Die Grauen Busse 71 opt 2017Die Ärzteschaft hat mit der Wander-Aufstellung der Grauen Busse, die die Menschen, die auf Listen standen, in die Anstalten transportierten, einen weiteren Schritt zur Aufarbeitung ihrer Schuld und Verstrickung gemacht. In Grafeneck wurde ein Dokumentationszentrum eingerichtet, eine Gedenkkapelle gebaut, ein alphabetisch geführter Garten angelegt. Neben der Berliner Philharmonie entstand der ‚Gedenkort für die Opfer der ‚Euthanasie‘. Der 27. Januar ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

Tausende von Schreibtischtätern waren eingesetzt, ein Großteil im Osten. Dort feierten sie und tranken als wäre nichts. Sie konnten zwischen Mord und Familienleben schnell wechseln. Der durchschnittliche Mitläufer war, wie Autorin Falkenstein ansprach, ans Grauen gewöhnt, kam aus allen Schichten, viele ‚waren sonst ganz normale Menschen‘, nicht wenige galten als kultiviert, waren aber zuvorderst Karrieristen und Opportunisten. Danach haben sie alle ihre Beteiligung geleugnet, haben sich als Opfer des Befehlsnotstands ausgegeben und sich aus allem herausgeredet, sofern sie nicht noch von der Richtigkeit ihrer Handlungen überzeugt waren.

Einem Justizskandal kommt es gleich, dass die Mehrheit der Täter ihrer Bestrafung entging, auch weil Kollegen ihnen Verhandlungsunfähigkeit bescheinigten (wegen zu hohen Blutdrucks etwa). Darüber hinaus war die altgediente Richterschaft des NS-Regimes wieder in Amt und Würden gekommen. Die Opfer, die überlebt hatten, traten denselben Tätern bei Gericht nochmals vor den Richtertisch.

Es gibt aus nationalsozialistischer Zeit ein Propaganda-Plakat übelster Sorte, auf dem eine Hetzkarikatur, die sich gegen ‚Erbkranke‘ richtete, zu sehen ist. Es trägt die Überschrift: „Hier trägst Du mit“, gemeint: die damals Kranken und Behinderten. Das Plakat zeigt einen Träger des ominösen Volkskörpers, der die Gebrechlichen über seinen gereckten Armen stemmt, um diese als untragbare Bürde herabzuwürdigen. Das Plakat wurde neuerlich von Neonazis abgewandelt und in ein Hetzplakat gegen Asylbewerber umgeformt.


Fotos © wikipedia.de (Stolperstein), Heinz Markert (Bus)

Info:

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO:

1. Eine Medizin, die der Menschlichkeit entsagte
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11503-eine-medizin-die-der-menschlichkeit-entsagte
2. ‚Nebel im August‘
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11504-nebel-im-august
3. ‚Annas Spuren‘ (Liebe Anna!...)
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11505-annas-spuren-liebe-anna
4. Anna hatte keine Chance
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11506-anna-hatte-keine-chance

Sigrid Falkenstein, ‚Annas Spuren‘, Ein Opfer der NS-„Euthanasie“, unter Mitarbeit von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider, Herbig Verlag 2012 ISBN 9783-7766-2693-3, zurzeit vergriffen, Neuauflage in Vorbereitung.
Kurzfassung in einfacher Sprache erhältlich (Titelfoto) ISBN 978-3-944668-40-6)
Es gibt die Vollfassung auch als eBook.