c schweigendeklassenzimmerSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. März 2018, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Ullstein Verlag ist es erschienen, das Erinnerungsbuch von Dietrich Garstka,  ursprünglich schon im Jahr 2006 und jetzt erneut als Sonderausgabe als BUCH ZUM FILM, direkt vor dem Anlaufen des Films am 1. März.

Der Ullstein Verlag wäre ja auch mit dem Klammerbeutel gepudert – ja, ich liebe diesen altertümlichen Ausdruck, weil kaum einer noch weiß, was ein Klammerbeutel ist und auch das Pudern hat ja vielfältige Bedeutungen, wobei die originäre immer weiter zurückgeht - , also verhielte sich töricht und nicht kapitalismusaffin, wenn zum Anlaufen dieses wirklich schönen Films von Lars Kraume nicht auch das dem Film zugrundeliegende Buch erneut auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen läge, natürlich jetzt mit der sehr auffälligen graphischen Gestaltung, die auch das Filmplakat und darüberhinaus auch das Presseheft ziert: eben die schweigenden Schüler dieser Klasse.

Und es gibt nur eine Rechtfertigung, warum dieses Buch unbedingt besprochen und auch vom Leser durchaus gekauft werden sollte: der Autor Dietrich Garstka ist dabei gewesen, ist einer der Schüler, die durch ein kurzes Schweigen die Oberen so dauerhaft gegen sich aufbrachte, daß eine ganze Klasse im November/Dezember 1956 vom Abitur ausgeschlossen wurde, der Schule verwiesen und ins Nichts geschickt wurde, ausgerechnet von einer DDR, die doch von der Jugend alles erhoffte. Letzen Endes verdanken wir es ihm, der – alt geworden – sich doch noch einmal dransetzte, aufzuschreiben, warum er heute im Westen lebt, auch wenn nun seit 1989/90 auch der Osten der Westen geworden ist.

Sein Buch – 253 Seiten – unterteilt sich in 18 Kapitel und hat Anmerkungen, Quellenangaben und Abbildungsnachweise und natürlich die Abbildungen in der Mitte des Buches zwischen den Seiten 128 und 129, wo 30 Fotografien uns die Akteure (!!!) von damals zeigen, die zudem seit dem ersten fünfjährigen Klassentreffen, das noch der STERN organisiert hatte, immer wieder zu Klassentreffen zusammenkamen, von denen das im Jahr 1996 das interessanteste war, das ‚historische Treffen‘, das in Storkow stattfinden sollte. Aber damit endet das Buch, Zeit, mit dem Anfang zu beginnen.

„Am 3. November 1956 tippt ein Oberfeldwebel in Frankfurt (Oder) auf die Tasten seiner Schreibmaschine. Er schreibt alle Wörter klein, auch die Überschrift: besonderheiten. Er verschreibt sich, drückt einen Buchstaben, der nicht passt, lässt ihn stehen , schreibt weiter, wieder falsch, auch diesen Fehler lässt er stehen, dann trifft er die richtigen Tasten. Er schreibt von einer 12. klasse in der oberschule in storkow. Hinter seine vertippten Buchstaben setzt er: kreis beeskov. Der liegt weit im Osten der Deutschen Demokratischen Republik, 30 km nur von der polnischen Grenze, aber auch nur 70 km von Berlin entfernt. Eine Kaff-Gegend ist das.“, so beginnt der Bericht DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER, das den Untertitel EINE WAHRE GESCHICHTE ÜBER MUT, ZUSAMMENHALT UND DEN KALTEN KRIEG trägt.

Der Oberfeldwebel schreibt über die Schulklasse, sie „habe 5 Gedenkminuten fuer die gefallenen freiheitskaempfer der konterrevolution in ungarn eingelegt.“ Feinsinnig und philologisch nimmt Dietrich Garstka den Oberfeldwebel beim Wort, überführt ihn des Westfernsehens, denn nur dort wurden die Gefallenen der Konterrevolution als Freiheitskämpfer tituliert, die doch in den Augen der DDR-Oberen und ihrer Sicherheitsorgane, einschließlich der STASI eindeutig Verräter sind Und dann sind diese Freiheitskämpfer auch noch „gefallen“. Man „fällt“ für Ehre und Vaterland, also wieder ein positiver Begriff, der hier im Zusammenhang des unglaublichen Vorgangs, daß eine Klasse zwei Minuten schweigt, gebraucht wird, wo doch sonst Konterrevolutionäre vernichtet werden, liquidiert halt.

Das ist ein furioser Anfang, weil er zusätzlich erhellt, wie hoffnungslos überfordert das System DDR mit diesem Pennälerverhalten war, das noch Jahrzehnte zuvor als Feuerzangenbowle über die Leinwand huschte, wenn nämlich Heranwachsende den Erwachsenen zeigen, daß man mit ihnen nicht alles machen kann, viel schon, aber eben nicht alles.

Und wie aus einem kleinen Aufbegehren eine große Sache wird, die aber nicht öffentlich ausgetragen wird, sondern durch eigentlich kindliches Handeln der politisch Verantwortlichen mit der Abiturverweigerung für eine ganze Klasse endet: "Weil, so schließt er messerscharf, /nicht sein kann, was nicht sein darf.", sagte dazu ironisch Christian Morgenstern - der überhaupt nicht mehr zitiert wird, fällt uns dabei ein.

Ein geschickter Schachzug vom Autor, uns an den fortlaufenden Ereignissen über das Getippte des Oberfeldwebels zu informieren: „nach mitteilung der kd beeskow hat der minister gen. Lange angeordnet, dasz die 12. klasse aufgeloest ist und keiner der schueler dasz abetur somit ablegen kann.“(Seite 12) Der ‚minister gen...‘ wird nicht Lange genannt, sondern es handelt sich um den Genossen Lange, ganz schön philologisch, wenn man erst mal an dieses Kleingeschriebene rangeht.

Und dann erst erzählt Dietrich Garstka die Geschiche, seiner und seiner Klasse Geschichte, die, wenn man sie liest und den Film schon kennt, zeigt, wie sinnreich Lars Kraume, Regisseur und Drehbuchschreiber den Text zum Film gemacht hat. Es ist alles schon vorhanden: die 12. Klasse, fünf Mädchen, 15 Jungen in der Mark Brandenburg, eine Stunde mit dem Zug oder Auto von Berlin entfernt – und der RIAS mit den Westnachrichten, Kommentaren und Reportagen. Nicht der Aufstand war das Entscheidende, sondern der gemeldete Tod des berühmten ungarischen Fußballspielers, dessenwegen die Abiturklasse aus Solidarität mit ihm die Schweigeminute beschließt und dann dichthält, wer der Rädelsführer war... so geht es im Film folgerichtig weiter. Im Buch aber wird dagegen von den verschiedenen Schülern ihre Erinnerungen an die frühe DDR-Geschichte gebracht. Nie gehört zum Beispiel, daß man nicht Russe sagte, wie im Westen üblich, sondern vom Sowjetmenschen sprach, denn der Russe war ja nur eine Ethnie im Vielvölkerstaat der UdSSR.

Und so setzt sich die Erzählung fort aus einer geschickten Montage der vielen einzelnen Erzählungen, zu denen die Mitschüler beitrugen, die Geschichte vom Zusammenhalt von Jugendlichen und den Folgen: der Verweigerung des Abiturs, was wiederum zur Folge hatte, daß viele in den Westen gingen, was vor dem Mauerbau relativ problemlos ging, die Familien aber dort blieben, eine Wunde fürs Leben. Daß so mancher aber diese Wunde erst geschlagen bekam, als bei er 50 Jahr Feier der Schule 1999 zwar einige der 1956 relegierten Schüler anwesend waren, aber ihre Geschichte bei der Geschichte der Schule überhaupt nicht auftauchte, das ist die große Überraschung, die zeigt, die Geschichten aus der DDR noch lange nicht alle erzählt sind. Sie sind different und sehr viel vielschichtiger als es diese Schulgeschichte vom Schweigenden Klassenzimmer deutlich machen kann, die für sich genommen ein Witz in der Weltgeschichte ist. Und ein Armutszeugnis für die DDR. Denn so mancher sehnte sich nach ihr, der von ihr in den Westen zu gehen gezwungen wurde.

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Info:
Dietrich Garstka, Das schweigende Klassenzimmer, Ullstein Verlag, Sonderausgabe Februar 2018