Konzentrationslager Osthofen auf einer AnsichtskarteFRANKFURT LIEST EIN BUCH vom 16. bis 29. April, Teil 10 - Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“, Teil 2/5

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Anna Seghers‘ Roman beschreibt Vorgänge im fiktiven Lager Westhofen im Jahr 1937.

Hierbei bediente sie sich, wie bereits erwähnt, des Namens eines Nachbarorts. Die von ihr geschilderten Vorgänge mit Ausnahme der Flucht entsprechend jedoch der Wirklichkeit des KZs Osthofen bei Worms, das von 1933 bis 1934 bestand.
Nachdem Heinrich Himmler im Mai 1934 angeordnet hatte, die Konzentrationslager zu zentralisieren, wurden die meisten kleineren KZs aufgelöst; als eines der letzten das Lager Osthofen im Juli 1934. Die Existenz des Lagers war vor der Bevölkerung nicht geheim gehalten worden. Im beschränkten Maß war es möglich, dass die Häftlinge Besuch empfangen konnten. Es gab sogar eine offizielle Ansichtskarte – siehe die Abbildung zu diesem Artikel.

Da Anna Seghers aus einer jüdischen Familie stammte, hätte man von ihr eigentlich ein konkretes Eingehen auf den Staatsantisemitismus des Dritten Reichs in dem Roman erwartet. Selbst wenn das vollständige Ausmaß der planmäßigen Ermordung der Juden im Jahr des Erscheinens des Buchs, 1942, noch nicht vollständig überschaubar war. Andererseits ließen die Nürnberger Rassengesetze und die unverhohlenen Drohungen Hitlers gegenüber den Juden, insbesondere für den Fall eines Krieges, Rückschlüsse auf die Ziele der faschistischen Diktatur zu. So vermisst man eine zumindest vorläufige Einschätzung der Ereignisse, kunstvoll in die Romanhandlung eingeflochten, angesichts der Singularität dieser Verbrechen bei der Lektüre der Erzählung schon.

Die Art der Geschichtsschreibung, die sich im „Siebten Kreuz“ niederschlägt, ist jedoch von anderer Art. Das hängt mit dem Wechsel der Perspektive zusammen. Diese wird auf den einzelnen Menschen hin ausgerichtet. Es werden Quellen, nämlich Zeitzeugen, erschlossen, um dem Alltag mit seinen diversen Verzweigungen auf die Spur zu kommen. Kleine und vielfach auch kleinste Lebenszusammenhänge werden als typisch für das damalige Geschehen eingeführt. Was die allgemeine, die abstrahierende Geschichtswissenschaft tendenziell eher an den Rand schiebt, gerät bei Anna Seghers in das Zentrum der Betrachtung. Das erklärt, zumindest weithin, den Verzicht auf allgemeine und systematisierende Erörterungen. Die detaillierte Beschreibung der Tatsachen, welche die Geschichten von Abhängigen sind, also von Opfern sowie von Verlierern gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, wird sowohl zum historischen als auch zum literarischen Instrument. Und dies gestattet eine ganz besondere Sicht auf einen Zeitabschnitt in der deutschen Geschichte, nämlich als der Staat zur Beute von Nationalisten, Rassisten und Unmenschen geworden war. In solch einem Kontext werden auch die Bilder vom Widerstand kontrastreicher, erhalten mehr Zwischentöne und verbieten eine reine Schwarz-weiß-Bewertung.

Die Menschen aus Rheinhessen und Frankfurt, die im „Siebten Kreuz“ auftreten, sind - wie in der Wirklichkeit - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen weder große Helden oder Märtyrer noch Frauen und Männer, die Geschichte machen, sondern Bauern, Handwerker, Fabrikarbeiter, ein Schäfer, ein Arzt, ein Pfarrer und ein promovierter Chemiker. Ihr Alltag ist selbst in den Jahren des Terrors nach der so genannten »Machtergreifung« der Nazis geprägt von Arbeit und von Freizeitbeschäftigungen an den Wochenenden. Außerdem schildert Anna Seghers jene kleinen und großen Tragödien, die nicht selten den Alltag von Familien bestim­men: Trennungen, Generationenkonflikte, soziale Probleme.

Georg Heisler, der letzte von sieben Häftlingen, die den Ausbruch aus dem KZ Westhofen versuchten und der als einziger endgültig entkommen konnte, ist nicht nur der klassenbewusste Kommunist, der sich als Gegenpol zum Kapitalismus und zum Unterdrückungssystem des Nazi-Staats versteht. Ja, seine politischen Motive werden nicht geleugnet. Doch er ist auch von einer unbestimmten Sehnsucht nach dem ganz anderen, sogar einem gefährlichen Leben, getrieben. Und das scheint mehr als nur ein Fingerzeig zu sein auf die Sehnsüchte der behüteten Mainzer Bürgerstochter Anna Seghers.

Historisch Nachprüfbares wie der gewöhnliche Alltag in Rheinhessen und Frankfurt, die Aneignung des normalen Lebens durch eine reaktionäre politische Bewegung sowie offene und verdeckte Widerstandshandlungen, insbesondere die schließlich gelingende Flucht aus dem Überwachungsnetz, das die Nazis über das Land und seine Menschen gespannt haben, verschmelzen mit der Fiktion des Romans. Dieser zeigt zudem den Umgang der Exilantin Anna Seghers mit der ihr aus eigener Anschauung unbekannten Realität in NS-Deutschland zwischen 1933 und 1937. Denn sie musste bereits 1933 fliehen und sich nach Frankreich absetzen, später nach Mexiko und in die USA.

Zur historischen Recherche gehört nicht zuletzt ein Vergleich zwischen den fiktiven bzw. authentischen Dörfern West- und Osthofen und zum anderen die Gegenüberstellung von Biografien fiktiver KZ-Wärter in Westhofen zu den realen SA- und SS-Männern in Osthofen, die sich zumindest exemplarisch im beschränkten Umfang nachweisen lassen.

Die Beschreibung Westhofens als eines Orts, dessen Umgebung sumpfig war, gar eine Wildnis voll dürren Gestrüpps, mit welken Stauden und Gurkenfeldern, durchzogen von Weidendämmen und stinkenden Abflussgräben, trifft nicht die Geografie des Weinorts Westhofen zu. Sie ist eindeutig eine Schilderung, wenn auch keine vollständige, von Osthofen, dass kaum einen Kilometer vom westlichen, teilweise morastigen, Rheinufer entfernt liegt und tatsächlich vom Gemüseanbau beherrscht war.

Von einer scherbengespickten Mauer umgeben ist das im Roman erwähnte Gelände einer landwirtschaftlichen Schule, die der Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie auf dem Lande dient und die nach Richard Darr benannt ist, seines Zeichens NS-Minister für Ernährung und Landwirtschaft, einem Blut-und-Boden-Theoretiker und Autor von Schriften wie „Das Schwein als Kriterium für nordische Völker und Semiten“.

„Früher war hier solcher Unfug nie gewesen. Allerdings, jetzt wurde etwas verdient hier in der Gegend, wo sonst ein Herumgekrusche gewesen war“. So beschreibt Anna Seghers die Stimmung im Ort. Manche Bauern können ihr Gemüse direkt an das Lager verkaufen und erzielen so einen kleinen zusätzlichen Umsatz. In den Kneipen betäuben die Wachmänner ihre Langeweile oder ihr Gewissen. Einige Einwohner träumen auch von der relativ unrealistischen Möglichkeit, „dass man später das Gelände in Pacht bekam, das all die armen Teufel da hinten aus buddeln mussten“.

Fortsetzung folgt.

Foto:

Das KZ Osthofen auf einer Ansichtskarte, die im Lager erworben werden konnte
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