kpmLiteratur und Kultur Februar 2019 Titel 72Zur Fragwürdigkeit von Bestsellerlisten

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Selbst in öffentlichen Bibliotheken, die gemäß ihrem Auftrag der Breitenbildung verpflichtet sind, stößt man auf rechtes und rechtsradikales Schrifttum.

Typische Beispiele sind Thilo Sarrazins Machwerke „Deutschland schafft sich ab“ und „Feindliche Übernahme“, aber auch der Nachlass des 2016 verstorbenen umstrittenen Historikers Peter Sieferle, der unter dem Titel „Finis Germania“ verbreitet wird. Wer daraufhin vermutet, dass die konzertiert arbeitende neurechte Publizistik bereits damit begonnen hat, die Institutionen der Volksbildung zu infiltrieren, wird zwar anderes, aber ähnlich Widerwärtiges, vielleicht noch Schlimmeres, erfahren müssen. Denn das Tor zu kommunalen Büchereien ist immer häufiger die „SPIEGEL-Bestsellerliste“, auf der Titel wie die erwähnten platziert waren.

Und diese wird als Referenz von einem Unternehmen eingesetzt, das sich ursprünglich im Eigentum öffentlicher Körperschaften befand, sich aber seit 2005 zu zwei Dritteln im Privatbesitz befindet. Die Rede ist vom „ekz.bibliotheksservice“ in Reutlingen, der einmal „Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken“ hieß. Dessen angestellte und externe Lektoren durchforsten die Verlagsangebote, was nominell anhand der Richtlinien der Kultusministerkonferenz geschehen müsste, und erstellen Einkaufsempfehlungen für die Büchereien. Allem Anschein basieren diese allenfalls nur zu einem Teil auf dem literarischen Urteilsvermögen von Fachleuten. Denn nachweislich werden immer stärker Bestsellerlisten unkritisch herangezogen. Da die staatlichen Bibliotheken in besonderer Weise unter dem verordneten Sparzwang der Landesregierungen leiden, ist man dort gezwungen, den Stab an Bibliothekaren klein zu halten und verlässt sich auf die „ekz“. Die stattet die bei ihr bestellten Bände auch ausleihfertig aus (Schutzfolie, Chip für die elektronische Erfassung) und bietet auch Regalsysteme an. Der anhaltende Trend zum Einkauf in Reutlingen bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den örtlichen Buchhandel, der jahrzehntelang die Haupteinkaufsquelle für Büchereien war. Auf diese Weise trägt die öffentliche Hand zur Verflachung der Literatur bei, ja, sie schafft sogar Schlupflöcher für verfassungsfeindliches Schrifttum.

Es lohnt sich, einen tieferen Blick in die Hitlisten über verkaufte Bücher zu werfen. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichte die erste im Jahr 1960; Versuche in den 1920er Jahren scheiterten sowohl an methodischen Problemen als auch am Interesse des Publikums. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ führte 1961 eine Bestsellerliste ein, die bis heute zu den bekanntesten ihrer Art zählt. Bis 1971 fragte das Institut für Demoskopie in Allensbach die für die Erstellung der Rangfolgen notwendigen Daten bei ausgewählten Buchhandlungen ab, 1972 wurde diese Aufgabe dem Branchenmagazin „Buchreport“ übertragen. Bis zum Jahr 2000 mussten die Verkaufsmeldungen des Handels nicht bewiesen werden; es reichte aus, eine Liste auszufüllen. Erst seit 2001 fließen die Daten aus den Warenwirtschaftssystem von 400 repräsentativ ausgewählten Buchhandlungen in die Erhebung ein. Aber auch Warenwirtschaftssysteme (digitale Kassen, die jeden verkauften Titel erfassen, die Warenbestände verändern und Nachbestellungen auslösen können) kann man manipulieren, vor allem, wenn man zwar Gutschriften für umgetauschte Titel erstellt, die Ware aber nicht zeitgleich in den Lagerbestand zurückbucht, sondern diesen erst im Rahmen einer Neudisposition aktualisiert.

Die „SPIEGEL-Bestsellerliste“ hat sich hinsichtlich der Lenkung von Kundeninteressen zu einem bedeutenden Werkzeug der Branche entwickelt. Besondere Nutznießer sind vor allem Filialisten wie Hugendubel, Mayersche Buchhandlung und Thalia sowie der Online-Händler Amazon. Dort wurde die Sortierung der angebotenen Bücher nach Autoren und /oder Literaturgattungen einschließlich inhaltlicher Bewertungen abgelöst durch eine Auswahl, welche sich eng an den Platzierung auf Bestenlisten orientiert. Der Kundschaft wird zusätzlich das angebliche Kaufverhalten anderer als Richtschnur empfohlen: „Wer dieses Buch bestellte, hat auch folgende Titel gekauft“.
Die Wochenzeitschrift „Focus“ lässt durch die Firma „Media Control“ die Daten für eine eigene Bestenliste ermitteln. Basis dieser Zahlen sind die Scanner in entsprechend ausgerüsteten Buchhandlungen. Über deren Programmierung gibt es jedoch wenig Informationen.

Eine deutlich größere Zuverlässigkeit enthalten die Marktinformationen der Zeitschrift „Buchmarkt“. Sie basieren auf Daten des Buchgroßhändlers (Barsortiment) Umbreit in Bietigheim-Bissingen (bei Stuttgart) und des Kaufhauses Karstadt (gebündelt in dessen Essener Zentrale). Dieses Magazin dient jedoch der Binneninformation der Verlage und Buchhandlungen, nicht der Unterrichtung des Publikums. Ebenfalls nur für den herstellenden (Verlage) und verbreitenden (Sortimente) Buchhandel interessant ist die Liste der 3.000 meistverkauften Titel eines Halbjahres, die das Barsortiment Lingenbrink herausgibt.

Zu den so genannten Dauer-Sellern der Buchgrossisten zählen beispielsweise das Liederbuch „Die Mundorgel“, der Rechtschreib-Duden oder die Bibelausgaben der Deutschen Bibelstiftung oder des Katholischen Bibelwerks. Sie sucht man in den anderen Listen vergeblich. Doch auch Verkaufslisten, die dem tatsächlichen Warenabsatz entsprechen oder ihm doch sehr nahe kommen, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Verkaufserfolg eines Buches dessen inhaltliche Qualität in den Hintergrund rückt.

Bücher sind zu einer austauschbaren Ware geworden, deren jeweiliger USP nicht mehr die unverwechselbare Eigenschaft (Qualität), sondern ihre Eignung zum Massenabsatz ist. Und diese Wende wurde erst von den großen Verlagen und buchhändlerischen Vertriebsfirmen ermöglicht. Ablesen lässt sich das an einem Aspekt, nämlich dem Ladenpreis, der wie ein Discountpreis erscheint:

Ladenpreise für Bücher, die auf 99 Cent enden (10,99 Euro, 14,99 Euro, 19,99 Euro etc.), sind ungewöhnlich für die Buch- und Verlagsbranche. Dort kannte man jahrzehntelang entweder volle Beträge (z.B. 20 Euro bzw. DM) oder solche knapp vor der Schwelle zum vollen Preis (14,80 Euro, 14,90 Euro). Doch seit die Leitung von Marketing- und Vertriebsabteilungen zunehmend in den Händen von Führungskräften liegt, denen die Ausnahmestellung des Buchhandels (man denke an das Preisbindungsgesetz) und die Qualitätsmerkmale der Ware Buch nicht bewusst ist und die eine Buchhandlung mit einem Discounter verwechseln, hat sich das geändert.

Auf den Internetseiten solcher Verlage findet man als Bezugsquellen vorrangig Hinweise auf Amazon, Hugendubel, Mayersche Buchhandlung oder Thalia. Zumeist nur in der Größe einer Fußnote wird – quasi als Alibi - auf den Buchhandel am Ort verwiesen. Aber diesem Pflichtvermerk fehlt die Überzeugungskraft; er stinkt – vor Einfältigkeit und vor Geringschätzung des Publikums.
Solche Preis- und Vertriebspolitik spiegelt sich auch in der Instrumentalisierung gängiger Bestsellerlisten. Was sich gut verkauft, muss gut sein. Mit der notwendigen Zuspitzung könnte man formulieren: Millionen Konsumenten einschließlich aller Bildungsfernen können sich nicht irren. Ja, der Satz ist geklaut, zumindest indirekt. „Leute esst Scheiße, denn Millionen Fliegen können sich nicht irren“ lautete die ursprüngliche Version.

Deswegen ist es für die Frankfurter Literaturinitiative PRO LESEN an der Zeit, den Bestseller-Mythos zu hinterfragen. Dies geschieht durch eine einwöchige Ausstellung im Bibliothekszentrum Frankfurt-Sachsenhausen (18. – 23. Februar), in der die SPIEGEL-Bestseller der letzten zwei Monate der Empfehlungsliste des Südwestrundfunks gegenüber gestellt werden.
Während der Donnerstagabend-Lesung am 21. Februar (19:00 – 20:30 Uhr) werden dann exemplarisch Ausschnitte aus der einen Kategorie mit denen der anderen verglichen. Mutmaßlich wird es dann zum „großen Verriss“ kommen – so das Motto des Abends.

Foto:
Titelbild des Februar-Programmhefts „Die Bestseller-Industrie und ihre Knechte“
© PRO LESEN e.V.