c fliegefortDIE KRIMIBESTENLISTE IM NOVEMBER, Teil 3

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Hoffentlich hat jedermann die Überschrift verstanden, die man sofort erkennt, wenn man literaturbewandert ist. Oder gibt es nicht auch ein Lied, eine Vertonung der Goetheverse? Tatsächlich handelt es sich bei dem Romantitel um ein Zitat aus dem Faust, natürlich in bestimmtem Kontext. Hier muß ein entführtes Mädchen zusätzlich als Strafe das Gretchen nachsprechen, das Zitat sogar auswendig lernen: „Meine Mutter, die Hur / Die mich umgebracht hat! / Mein Vater, der Schelm / Der mich gessen hat!“... die letzte Zeile ist zum Titel geworden: „Fliege fort, fliege fort“. Schaurig.

Bei Paulus Hochgatterer, dem sehr bekannten österreichischen Romancier, kann man lernen, was eine bildmächtige, eine präzise und eine einfach so angenehm zu lesende Sprache ist. Erst dann merkt man so richtig, wie wenig sprachlich verwöhnt wir mit vielen Krimis sind, die halt von ihrer Geschichte leben und man schon froh ist, wenn einem die Sprache nicht weiter auffällt, negativ auffällt, ist damit gemeint. Hier geht es einem genau andersherum. Ja, die Geschichte ist sehr tragfähig, das sowieso, eher sogar doppelt gestrickt. Dazu gleich. Aber beim Lesen hält man immer wieder inne, weil ein Ausdruck auffällt, oder eine Redewendung einen noch über die Information hinaus beschäftigt. Das ist schon ein Unterschied, ob ein ‚richtiger‘ Autor schreibt. Damit ist nicht gegen die Krimischriftsteller gesprochen, sondern dafür, daß ein versierter Autor richtige Kriminalromane schreibt.

Denn das ist ein richtiger, mit einem richtigen Kommissar, aber noch viel mehr. Eine Weile braucht man schon, bis man alles beieinander hat, denn Hochgatterer knallt einem ganz schön viele Personen ins Hirn, die man erst mal sortieren muß, bis man geläufig merkt, wer zu wem gehört, was sich im Roman ja auch ändern wird. Stimmt, diesmal hätte ich mir eine Liste der auftretenden Personen mit ihren Querbezügen gewünscht, wie es so leserfreundlich die meisten italienischen Romane es bringen.

Genauso wichtig wie das literarische Personal ist erst mal die Gegend. Eine salzburgerische, heißt es, was natürlich, guckt man auf der Karte nach, auch leicht ins Oberösterreichische reicht. Auf jeden Fall einer der Seen des Salzkammerguts, ein Begriff, der nicht vorkommt, und – das fällt einem dabei auf – heute auch viel weniger gebraucht wird als früher, erst recht im Kaiserreich, wo die Bundesländer noch keine Rolle spielten und nur Landschaftsbezeichnungen waren wie die Steiermark. Furth am See heißt dieser Ort, eine Kleinstadt, ein großes Dorf, auf jeden Fall ein Ort mit Krankenhaus, mit Rathaus, mit Polizeistation, mit Schulen eh, aber auch mit einer Art von Internat oder sollte man gleich Erziehungsanstalt zu diesem Kinderheim sagen, das eine schlimme Vergangenheit hat, die für die, die sie erleiden mußten, nicht vergeht.

Wer Paul Hochgatterer erfahren ist, der weiß sofort um was es sich handelt, denn dies ist sein dritter Kriminalroman, dem gerne, weil es stimmt, das Beiwort literarischer Kriminalroman zugefügt wird, vorangegangen sind im Jahr 2006 DIE SÜßE DES LEBENS und 2010 DAS MATRATZENHAUS, die wir beide nicht kennen, was nicht schlecht wäre, wenn dies nun der dritte Furth-Roman ist. Auch nicht schlecht, wenn man weiß, daß die beiden Ermittler, die in FLIEGE FORT... gefordert sind, insofern mit dem Autor etwas zu tun haben, als der eine Rafael Horn heißt und der Psychiater im stadteigenen Krankenhaus ist. Zwar wohnt Paul Hochgatterer nicht in Furth, aber auch er ist im Brotberuf Psychiater, allerdings speziell für Kinder und das auch noch in Wien.

Wo soll man anfangen. Ach so, erst einmal noch auf den Kovacs Ludwig hinweisen. Wenn Hochgatterer wüßte, aber wahrscheinlich weiß er es, wieviele im Salzburgerland Kovac heißen, oder eben auch Kovacs, eigentlich ja Kovač – interessant, daß Niko Kovac, in Berlin geboren und in Frankfurt Trainer immer nur Kovac hieß, aber als Bayerntrainer und in Salzburg lebend nun dort Niko Kovač geschrieben wird. Also dieser Kovacs ist Kommissar, was beide eint, ist ihr Alter Ende Fünfzig und auch eine gewisse Altersmilde, ja Altersmüdigkeit, die leicht mit Altersdepression verwechselt wird, aber so weit sind beide noch nicht. Es gibt nämlich genug zu tun. Gerade jetzt. In Furth ist der Mord, also gewissermaßen der Gesellschaftsmord eingezogen. Unerklärliche Todesfälle, geradezu obskur, oder wie soll man das nennen, wenn eine Ordensschwester erstickt, weil in ihrer Luftröhre Katzenfutter gefunden wird? Aber das ist nur der unappetitliche Anfang.

Auffällig, daß es immer die Alten trifft, was man am Schluß, wenn sich die lange unerklärliche Lage aufklart, natürlich sofort versteht. Aber nicht nur die Alten leiden, die sind ja schnell tot, aber da ist auch ein Mädchen, eine Zehnjährige, das entführt wird, was ja ein der Regel mit einer Lösegeldforderung fortgesetzt wird. Doch hier ist das nicht der Fall, Tag für Tag vergeht, der Vater scheint zu wissen, worum es eigentlich geht und hat wenig Hoffnung.

Warum sie ihr Leben lang solche Hoffnung nicht haben konnten, das erweist sich am Schluß für die Täter, die – das sei dazugesagt – gute Gründe für die Morde hatten. Bleibt als Resümee, daß sich Gesellschaften doch beizeiten um Menschenrechte in ihren Institutionen kümmern sollten, damit die Versäumnisse nicht in Morden beglichen werden. Und im übrigen, was DER SIEGELRING bedeutet, DIE DECKE oder DER EINZUG, das hätten wir lieber nicht gewußt. Auf was die Leute , ach was, die Sadisten kommen! Gemein.

P.S. Nachdenklich macht einen das Motto von Walter Benjamin, das dem Roman vorgeschaltet ist: „Die erste Erfahrung, die ein Kind von der Welt macht, ist nicht die, daß die Erwachsenen stärker sind, sondern daß es selbst nicht zaubern kann.“ Und erst recht, was der Autor als Nachwort mit auf den Weg gibt: Seine Bücher handeln vom "Sieg der Erzählung des Einzelnen über die behauptete Wahrheit der Mehrheit".

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