dunkelDer Anfang einer isländischen Krimi-Trilogie von Ragnar Jónasson, bei btb

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, nachdem ich, ohne innezuhalten, einen ganzen Tag lang dieses Buch las, das der Verlag einen Thriller nennt, der aber auch die Innenschau, die Selbstreflexion eines traurigen Lebens ist, denn die Kommissarin, um die es hier geht, Hulda Hermannsdóttir, war ihr Leben lang eine vorbildliche Polizistin, mit Spürsinn für andere und einer hohen Aufklärungsrate, aber gleich auf beiden Augen blind, wenn es um ihr eigenes Leben, ihre Familie ging: Tochter Dimma, die mit 13 Jahren starb und Ehemann Jón, die Liebe ihres Lebens, der nur 58 Jahre wurde.

Wir lernen diese spröde Kommissarin an dem Tag kennen, als ihr Chef, der äußerst unsympathisch Magnús ihr mitteilt, daß sie nicht erst in einem Jahr ‚normal‘ pensioniert wird, sondern sofort, an diesem Tag noch freigestellt wird, denn ihr Arbeitsplatz, ihr Büro wird für einen jüngeren Kollegen gebraucht. Für sie bricht eine Welt zusammen, denn sie hatte – erst recht nach den beiden Schicksalsschlägen, dem Tod von Tochter und Ehemann – nur für den Beruf gelebt, hatte weder spezielle Interesse – außer dem an der Natur und dem Wandern in den Bergen, also dem Alleinsein – noch das, was man Hobbys nennt. Was soll sie also tun? Sie ringt dem Vorgesetzten ab, daß sie erst noch – ganz ohne Büro - einen der ungelösten Kriminalfälle zu klären versucht, was er schnell auf einige Tage und dann auf nur noch einen Tag reduziert.

Meine Güte, was sie in diesen Tagen, der dann auf einzigen zuläuft, für polizeiliche Ermittlungsfehler macht, das geht auf keine Kuhhaut. Toll, wie einen Autor Jónasson zum Schreibkomplizen macht, denn immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich innerlich mit dieser Kommissarin haderte, was sie jetzt gerade wieder übersieht oder in welche Fallen sie tappt. Schließlich in die schlimmste, die...aber da sperrt sich die Feder wie auch die Schreibtaste, über das grausliche Ende zu berichten. Deshalb erst einmal zur Geschichte des Romans diese unerwartete Variante einer Trilogie. Niemals, so berichtete Autor Ragnar Jónasson, laut Klappentext 1976 in Reykjavik geboren und Mitbegründer von ICELAND NOIR, dem Reykjavik International Crome Festival, habe er an Fortsetzungen gedacht, als er DUNKEL – im Original DIMMA, Name der Tochter – schrieb. Erst der Riesenerfolg in der Heimat 2015 und international auf Englisch 2018, habe ihn zu den Fortsetzungen animiert, die - und das ist nach dem Ende von DUNKEL auch logisch – in der Vergangenheit liegen, das, was im Filmgeschäft sogenannte Prequels sind, im Gegenteil von Sequels, die reine Fortsetzungen des Geschehens darstellen.

Über den Autor heißt es noch, daß seine Bücher (Welche? Wieviele?) in 21 Sprachen in über 30 Ländern übersetzt werden und nicht nur von den Auflagen her, sondern auch der hochrangigen Kritik gefeiert werden. Aber er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Investmentbanker (??I sland, Finanzkrise 2008-11 ), der an der Universität Reykjavik Rechtswissenschaften lehrt.

Zurück zu Hulda, die wir kennenlernen, als sie erst eine alleinerziehende Zeugin, die gesehen hat, wie ein Auto einen Mann überfuhr, hart ran nimmt und ihr auf den Kopf zusagt, daß sie selber mit Absicht diesen Mann überfahren hat – was stimmt, denn der ist ein Sexualstraftäter und hat sich auch an ihrem Sohn vergangen-, bis diese Frau gesteht, gleichzeitig fragt, was nun passiert und was mit ihren kleinen Jungen, woraufhin Hulda ihr erstmal die Hand auf die Schulter legt und geht, dann in einem nächtlichen Anruf der Täterin sagt, daß sie kein Protokoll über das Gespräch fertige und diese von Polizeiseite aus weiterhin nur als Zeugin fingiere. Schon wieder hat uns Jónasson zum Komplizen gemacht. Diesmal moralisch, denn ich nicke innerlich beim Lesen dieses Gesprächs...und als, da die Haupthandlung eine völlig andere ist, fast 300 Seiten später die Folgen dieses Gesprächs wiederauftauchen, die Zeugin, die Mörderin, hat von sich aus der Polizei vom Gespräch mit der Kommissarin berichtet, da durchlebe ich mit einer Intensität, die mich selbst irritiert, genau die Momente im Leben, wo man dafür, daß man für jemanden etwas tat, nicht nur Undank erfährt, sondern den bittersten Verrat. Er macht also was, mit uns, den Lesern.

Vor allem aber macht er was mit Hulda. Von den vielen Fehlern ihrer Tätigkeit in diesen letzten Tagen wurde schon gesprochen. Aber die werden aufgewogen durch ihre Ideen, an wen sie sich wendet und wie ihr gelingt, aus einem eigentlich abgeschlossenen Fall ein Geschehen zu entwicklen, das mit Recht Thriller genannt wird: denn zum als Selbstmord garnierten Tod der russischen Asylantin Elena, den sie als Mord aufklärt, kommt mit Katja eine weitere, eine verschwundene Russin dazu. Wir sind durch eingeschobene, durch kursiv gesetzte Schrift, abgehobene,Kurzkapitel dabei, wie sie mit bösen Vorahnungen mit ihrem Mörder unterwegs ist, der auch der Mörder von Elena sein wird, weil diese etwas ahnt, der auch der Mörder der Kommissarin....

Aber dann gibt es noch einen dritten Strang in diesem Roman, der nicht durch andere Schrift abgesetzt ist, sondern, der nur durch das Thema als eigenständige Geschichte die Hauptgeschichte durchwabert, so daß man sofort weiß, daß man jetzt die Geschichte des Kindes erfährt, das von der blutjungen Mutter in einem Säuglingsheim getrennt aufwächst, bis die Mutter zurück zu den Eltern geht und das Kind dort aufwachsen darf. Man ahnt schnell, daß es niemand anderes als Hulda ist, so daß deren emotional verstörter, ja versteinerter Zustand aus beidem resultiert: ihrem eigen Leben, das sie unfähig machte, die isländische Bussi-Kultur mitzumachen, und gleichzeitig durch ihr soziales Außenseitertum dazu befähigte, tiefer ins Geschehen einzudringen und die Kriminalfälle zu klären, an denen andere zu dicht dran waren, um das Tatgeschehen und die Täter zu finden.

Das ist echt eine geniale Konstruktion, die dem Autor da gelingt. Und für mich einer der wenigen Kriminalromane, wo es mir nicht auf die Nerven geht, dauernd mit dem Privatleben der Ermittler überrieselt zu werden. Hier fügt sich das eine in das andere. Ohne die private Hulda wäre die Polizistin Hulda nicht zu begreifen.

DUNKEL ist am 25. Mai bei btb erschienen. Der Verlag kündigt für den 13. Juli den zweiten Teil INSEL, der 15 Jahre früher spielt, und für den 21. September mit NEBEL den Abschluß an. Sicher, daß wir weiterlesen und weitersprechen!

Foto:
Cover

Info:
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Originaltitel: DIMMA
Originalverlag: Bjartur Veröld
Paperback , Klappenbroschur, 384 Seiten, 13,5 x 20,6 cm, 1 s/w Abbildung
ISBN: 978-3-442-75860-9
Erschienen am  25. Mai 2020