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Kategorie: Bücher
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - zuckerfabrikDeutscher Buchpreis 2020, Sechserliste, Teil 20 und 13. Schweizer Buchpreis: Fünf Nominierte, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Für das Lesen dieses Buches, das Roman zu nennen, mir nicht über die Lippen kommt und auch nicht über die Tasten geht, habe ich rund vier Wochen gebraucht. Mindestens. Denn ähnlich wie die Autorin ihre Erlebnisse, ihre Träume und Reflexionen darüber, ihre Zitate, gut passende Aphorismen, überhaupt alles Textmaterial, das einem so unterkommt und das jemand wie ich, in einem eigenen Kasten sammelt, um er irgendwann und irgendwo zu verwerten, und dann erst ihre Lektüre von anderen Schriftstellern, die als Erfahrung neu aufgemischt wird durch Dorothee Elmiger und in uns, die wir jetzt von deren Erfahrungen lesen, von uns mit den eigenen verglichen werden müssen, ein unendlicher Mahlstrom von Ideengut, gelebtem Leben, vorgefundener und von uns heute kritisch betrachteter Geschichte, wie es der Kolonialismus besonders prägnant zeigt, von allen Formen der Literatur, den Sagen, den Gedichten etc...also, ähnlich wie die Autorin kann ich jetzt selbst eine Schwarte vorlegen, in der meine Erfahrungen mit dem Textmaterial der Elmiger und ihren Geschichten durch mich und mein Leben reflektiert wird.

Denn ich bin da gewesen. An so vielen Orten, von denen sie schreibt. Das ist mir das Eigentümlichste an diesem eigentümlichen Buch, weswegen es, obwohl kein Roman mit Personen und einer Geschichte, mit der man sich anfreunden kann oder nicht, sich identifiziert oder nicht, gerade AUS DER ZUCKERFABRIK mir das innigste und persönlichste Leseerlebnis vom diesjährigen Deutschen Buchpreis geworden ist.

Wo gibt‘s denn das, daß heutzutage Maria Luise Kaschnitz gelesen wird und zitiert, die wir Älteren aus Frankfurt , konkret dem Westend, ja noch gut kennen, oder auch der so früh verstorbene Spurensucher Frankfurts, Peter Kurzeck, der dann auf Seite 68 auftaucht. Auftauchen ist das richtige Wort, um zu beschreiben,w as hier vor unseren Augen auf den Buchseiten passiert. Das zwingt einen, das Auftauchen von Personen, Vorgängen, persönlichen Erlebnissen, Ansichten über die Zeit und das Leben, mit dem eigenen Leben und Entsprechenden zu konfrontieren. Anstrengend. Aufregend. Und dann hat mich das regelrecht verfolgt, zum Beispiel die Orte.

Unheimlich wurde mir, als ich schon auf Seite 23 von der Kaschnitz las: „Oder Orte, nie gesehene, zum Beispiel Stockholm oder Aden am Roten Meer oder Samarkand und so weiter“, bin ich doch an allen drei Orten gewesen, sogar mehrfach. Da kann man nicht einfach weiterlesen, sondern fragt sich, wieso und weshalb, was ich in meinem Fall sofort beantworten kann, daß ich das Glück, das große Glück hatte, sehr früh im Leben als Reiseleiter unterwegs zu sein, der für das Glück der Gruppe zuständig war, nicht für die Reiseführung, die immer örtlich war, erst recht in Staaten wie der UdSSR. Aber so kann man doch keine Literaturkritik schreiben, indem man auf gut Baierisch sagt: „I aa“, was sowieso gefährlich nahe dem „I ah“ kommt, was dem Esel zugeschrieben wird.

Aber das ist ja nur der Anfang, Paris und viele Orte, die eine Rolle spielen, geschenkt! Da waren und sind so viele, so daß man sich nicht persönlich angesprochen fühlen muß. Wenn es aber dann auf einmal nach Haiti geht und von der Hauptstadt im Süden Port-au-Prince es die über 200 Kilometer hoch in den Norden geht zur Zitadelle La Ferrière, einer Festung hoch oben auf dem Berg, die der damalige General Henri Christophe 1805 erbauen ließ, der sich zum Kaiser aufrief, obwohl doch die Haitianer die ersten in der Karibik waren, die seit 17791 gegen Frankreich kämpften, wurden, was mit dem im Buch erwähnten Toussaint L’Ouverture  zu tun hat und dann mit Dessaslines 1804, damals der erste unabhängige Staat und heute das einzige Land des Doppelkontinents Amerika, das zu den ärmsten, den wenigsten entwickelten Ländern der Welt zählt. Von daher lese ich mit einem lachenden Auge und einem weinenden über dieses arme Land. Und wenn die Autorin wieder hinfahren sollte, dann muß sie einfach mit witzigen und einfallsreichen Literaten Gary Victor zusammentreffen und ja, das wunderte mich, wo sie so belesen und fundiert Wissen weitergibt, da fehlt mir einfach der Name und die Person von Hans Christoph Buch, der hierzulande schon über Haiti schrieb, als viele nicht wußten, wo das liegt.

Oder die Bilder, die sofort im eigenen Kopf reproduziert werden. „Der Kopf des Studenten Robert Binswanger“, von Ernst Ludwig Kirchner, ist sofort da. Aber wo hatte ich ihn gesehen, im Frankfurter Städel, wo er prominent vertreten ist, oder im Kirchnerhaus in Aschaffenburg, wo Kirchner geboren wurde? Und hat dieser Robert was mit der Schweizer Binswanger Dynastie zu tun, die ich erstmals durch die Beschäftigung mit Sigmund Freud kennenlernte. Genau, doch das kommt im Ablauf der Worte später, hat sich bei mir beim Lesen aber schon mit dem Namen Robert Binswanger einstellt. Dabei sind wir ja gerade noch bei Kirchner. Welch außergewöhnliches Leben, so hoch gekommen durch eigene Kraft und dann von den Nazis verfolgt, so tief gefallen, in den eigenen Tod. Im Buch der Elmiger sind das gerade mal fünf Zeilen, aber mich hat das mindestens einen Tag beschäftigt, denn der Maler Kirchner gehört zu denen, dessentwegen wir auf die Nazis noch mehr Wut haben müssen als sowieso. Diese Verbrecher, die uns unsere eigene Kultur vernichtet, verleumdet, verbrannt, vergast haben. Nämlich die Träger unserer Kultur und damit deren Erzeugnisse auch, die dann nach 1945 zumindest für den Deutschen Expressionismus wieder hervorgeholt wurden, so noch vorhanden.

Sie merken selbst, so kommt man nicht weiter, denn wir sind erst auf Seite 24, nachdem die Besuche von Haiti, wo auch der gewisse Glücksritter, schon war, bevor er Millionen gewann, kurz schon vorgeholt wurde. Die vielen Namen, sonst nennt man das neudeutsch Namedropping, was man vielleicht noch der Autorin verzeiht, aber sicher nicht der Rezensentin, die sich nun anhängt, wo sie sich doch gar nicht angehängt fühlt, sondern nur im Kopf und Gemüt auf das reagiert, was sie liest und erstaunt registriert, daß sich Dorothee Elmiger die Mühe gemacht hat, für sie ein Buch zu schreiben, auf daß sie sich besser erinnert, was ihr Leben ausmacht.

Darum habe ich ganz bald beschlossen, dieses Buch, das eigentlich beim Deutschen Buchpreis, der ein Preis für den besten deutschen Roman ist, überhaupt nichts verloren hat, nicht weiter zu besprechen, sondern festzustellen, daß

man endlich den Begriff Roman aus den Preisstatuten entfernen sollte, also andere Textgebilde zulassen muß, denn der Begriff DEUTSCHER BUCHPREIS beschreibt zudem vieles, was zwischen zwei Deckel paßt wenn man dieses Sammelsurium des Lebens und der Erfahrungen der Dorothee Elmiger zuläßt, ihr dann auch den Deutschen Buchpreis zu überreichen, dann hat das wenigstens Methode und einen Sinn dazu.Cover

Eine solche Entscheidung wird zwar dem Buch keinen Kassenerfolg bringen, dazu setzt die Lektüre zuviel voraus, träfe aber eine femme de lettres in Reinform. Schließlich haben haben wir zum Leseerfolg noch immer den letztjährigen Buchpreisträger Saša Stanišić mit seiner wirklich schönen und berührender HERKUNFT, so etwas wie Autobiographie, die auch ein Jahr später auf der in der FAZ wöchentlich veröffentlichten Bestsellerliste von Hugendubel gerade von Platz fünf auf Platz sieben rutschte, aber auch nach einem Jahr immer noch dabei ist!!! Das macht einen doch froh.

Foto:
Cover

Info:
Dorothee Elmiger, AUS DER ZUCKERFABRIK, Carl Hanser Verlag
ISBN