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Kategorie: Bücher

Ein Nachruf und vermischte Gedanken

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - "Triste, triste, triste! Marcel Reich-Ranicki è morto!" Der Außenstehende, der ihn überwiegend nur von ferne, zunächst lediglich als für Literatur und literarische Wertungen sich zu interessieren beginnender Jugendlicher, als Fernsehzuschauer, Leser und später als Student der Literaturwissenschaften und aktiver Literaturwissenschaftler wahrnahm, mit dessen Interessen und Zielsetzungen, wie bei jedem denkenden Menschen, zwangsläufig gleichermaßen Übereinstimmungen wie nicht zu überbrückende Differenzen bestehen mußten, trauert gewiß anders.

 

Er trauert gewiß anders als diejenigen, die dem Verstorbenen tatsächlich nahestanden – da sich jedoch dessen Lebensweg und der des Verfassers dieser Zeilen für einige wenige Momente berührten, die dem Letztgenannten durchaus schicksalhaft erscheinen, sei es diesem gestattet, ein paar persönliche Betrachtungen in der ersten Person gegenüber einer hoffentlich nicht nur respektvoll erschütterten Mit- und Nachwelt auszusprechen und diese seine Ausführungen mit einer Abwandlung jener Worte anheben zu lassen, welche Giuseppe Verdi anläßlich der Nachricht des Todes von Richard Wagner einem Freunde schrieb.

 

 

Kommissar oder Kritiker? Oder beides?

 

Ein erstes Bild von Marcel Reich-Ranicki begann ich mir irgendwann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu machen, als ich beim Lesen eines dtv-Katalogs (damals gab es noch gedruckte Verlagskataloge, die man kostenlos in jeder Buchhandlung bekam!) seines Photos ansichtig wurde. Mein erster Eindruck: Kommissar Göttmann (Werner Kreindl) aus „Soko 5113“ schreibt also auch literarhistorische Werke? Immerhin – davon, daß es Reich-Ranicki, Derrick vergleichbar, zwar nicht zum Kommissar, wohl aber zum Inspektor gebracht hatte (in zwei Geschichten Martin Walsers – „Selbstportrait als Kriminalroman“ und „Maximale Entblößung“), wußte ich noch nichts: So abwegig war die Assoziation offenbar nicht.

 

Als das „Literarische Quartett“ 1988 seinen Gang nahm, wurde ich erst allmählich auf dieses Format aufmerksam. Langsam begann mir klar zu werden, daß es sich bei dem vorerst durchaus einschüchternd wirkenden Herrn auf der Couch und dem Kommissar aus dem dtv-Katalog um ein und dieselbe Person handelte. So lernte ich schließlich auch die korrekte Aussprache seines Namens. Beeindruckend war aber vor allem seine Aussprache – den Namen „Thomas Bernhard“ und später auch „Bernhard Minetti“ von seinen Lippen zu vernehmen, kam dem Erlebnis einer Naturgewalt gleich. Wünschte man tatsächlich, ihm einmal gegenüberzutreten? Später, viel später erst stellte sich der Effekt ein, daß man beim Lesen seiner Texte gleichsam seine Stimme und seinen Sprechrhythmus zu vernehmen vermeinte – in solcher Einheit erschienen bei ihm das gesprochene und das gedruckte Wort.

 

 

Sapere aude!“

 

Es müssen die Quartettsendungen von Herbst 1989 bis Sommer 1990 gewesen sein, einschließlich seines Gesprächs mit August Everding über „Sinn und Unsinn der Kritik“ und einer Sondersendung anläßlich seines 70. Geburtstags, an welcher auch Rolf Hochhuth teilnahm, der wenige Wochen zuvor Gast im „Literarischen Quartett“ gewesen war, die auf mich eine quasi ermutigende, ja geradezu befreiende Wirkung ausübten – hier wurde vorgelebt, daß ein Verhältnis zur Literatur und zu Autoren, im Guten wie im Schlechten, auch ohne das lähmende, duckmäuserische Gebaren möglich war, das einem in der Schule und bei kulturellen Veranstaltungen so schmachvoll vorexerziert wurde und leider auch an der Universität eher die Regel denn die Ausnahme bezeichnen sollte.

 

Gefragt, auf welche gemeinsame Leistung er besonders stolz sei, äußerte Hellmuth Karasek, er sei vielmehr glücklich, daß die Anfangsjahre des „Literarischen Quartetts“ mit dem Erscheinen der Tagebücher Thomas Manns einhergingen. Das Erscheinen des letzten Bandes der Tagebücher, der großen Thomas-Mann-Biographie von Klaus Harpprecht und das des Wende-Romans „Ein weites Feld“ von Günter Grass sollte auch für mich, der ich 1995 das Abitur machte und mein Germanistikstudium begann, eine Zäsur markieren. Doch über all´ die Jahre ergab sich für mich die Devise, Thomas Mann zu lesen und das „Literarische Quartett“ zu sehen, aber nur sehr selten, meistens noch extrem zeitlich verzögert, den dort besprochenen Büchern eine Lektüre angedeihen zu lassen.

 

Was verband mich mit Marcel Reich-Ranicki? War ich nicht lediglich Fan einer Kunstfigur, die bisweilen über den Bildschirm turnte, von der man auch hin und wieder Kritiken las – und im Laufe der Jahre immer mehr! – , mit deren Lektürevorlieben aber die eigenen Lektüren und später erst recht die Themenbereiche, denen man sich als Literaturwissenschaftler zuwandte, von Grundsätzlichem abgesehen letztlich nur wenig zu tun hatten?

 

Shakespeare, Goethe, Thomas Mann, Franz Kafka und Vladimir Nabokov waren auch meine Leitbilder – aber wie wenig wußte ich mit dem vielen anderen anzufangen, das sich aufgrund der Gesetze der Zeitgenossenschaft im „Literarischen Quartett“ und im Feuilleton besprochen fand? Der Schnittmengen konnte es nicht allzu viele geben. Eher schon sollte sich hier das Gebiet der Musik anbieten – Beethoven, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy, vor allem aber Wagner, in dessen Verehrung sich Reich-Ranicki nicht durch seine Erfahrungen als Jude mit einem deutschen Staat beirren ließ, dessen Führer sich auch als Vollender der Ideen des Bayreuther Meisters gerierte; leider nicht jener, die sich auf die Entwicklung des musikalischen Dramas bezogen.

 

Möglicherweise liegt das, was sich von Marcel Reich-Ranicki auf einer sehr abstrakten Ebene lernen ließ, ironischerweise umso konkreter darin, was wiederum Hellmuth Karasek als seine unbedingte Parteinahme für die Literatur bezeichnete. Worin anders konnte diese Parteinahme bestehen, als in der schlichten Bemühung, die Literatur stets rein literarisch zu beurteilen, sich in seinem Urteil nach Möglichkeit nicht von politischen, religiösen oder anderweitigen Voreingenommenheiten leiten zu lassen. Dies allein wiegt mehr als alle zufälligen Übereinstimmungen in der Bewunderung oder beim Verurteilen eines Werks. Es mag vielleicht etwas banal klingen, aber es war allzu häufig der Grund so manchen Angriffs, dessen sich Reich-Ranicki von Seiten politisierender Kritikerkollegen oder von Seiten einer eingeschnappten Germanistik, die ihm häufig nichts weiter als seine Bekanntheit und Beliebtheit neidete, zu erwehren genötigt sah.

 

Doch wußte gewiß niemand anders besser als Marcel Reich-Ranicki selbst, wie schwer solch eine literarische Objektivität den eigenen Idiosynkrasien gegenüber zu erringen und zu halten ist. Reinhard Baumgart benannte einmal diese Eigenarten Reich-Ranickis, die ihm mancher als persönliche Schwächen ankreidete: Reich-Ranickis vorwiegende Orientierung an der realistisch-psychologischen Erzählkunst der europäischen Romanliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ihn experimentellen Ansätzen allzu häufig mit Unverständnis und darauf gegründeter Ablehnung begegnen ließ, aber auch sein Unbehagen allem gegenüber, was für ihn nach Irrationalismus röche – Kleist und Hölderlin, so Baumgart, hätte Reich-Ranicki zu ihrer Zeit womöglich ebensoviel Skepsis entgegengebracht, wie er dies in der Gegenwart den Werken von Peter Handke und Botho Strauß angedeihen ließ.

 

Reich-Ranicki war in seiner Programmatik, wenn der Begriff bezüglich seiner nicht schon zu weit gegriffen erschiene, entgegen anderslautenden Einschätzungen immer am Ideal des Deskriptiven, nie des Normativen orientiert. Sein vermeintliches Festhalten am Altbewährten war eine Vorsichtsmaßnahme. „Keine Experimente!“ ließe es sich verkürzt sagen – allerdings stets mit der Einschränkung: „Nur solange gilt die Regel, bis ein Genie kommt und sie widerlegt!“

 

Nicht das persönliche Interesse am Gegenstand eines Buches ist entscheidend – wichtig allein hingegen ist es, den Leser, der sich für das Thema des Autors nicht im Mindesten interessiere, durch die Art der Darstellung zu fesseln: Dies ist das Charakteristikum von literarischem Rang – denn, so Voltaire, jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.

 

Und damit einhergehend: Reich-Ranickis als Artikulation einer persönlichen Vorliebe getarnte Mahnung an die Autoren, sich Intellektuelle und nicht etwa einfältige Menschen als Hauptpersonen ihrer Geschichten zu wählen, sich also nicht hinter einer naiven Perspektive zu verstecken, sondern sich der höchsten gestalterischen Herausforderung zu stellen.

 

 

Eine stilistische Mahnung

 

In einer Fernsehsendung – es muß wohl im „Literarischen Quartett“ gewesen sein, irgendwann zu Beginn der 1990er Jahre – hub Reich-Ranicki einst an: „Ich gehe davon aus, daß...“, hielt dann aber inne und fuhr dergestalt fort: „Nein, das wäre ja schlechtes Deutsch! Also: Ich vermute (oder ich nehme an), daß...“. Auch das bleibt haften!

 

 

Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser

 

Schon früh konnte dem Zuschauer und Leser ersichtlich werden, daß die Verbindung zwischen Reich-Ranicki und Walser eine besondere war. Reich-Ranicki war nie der „Verreißer“, als den man ihn bisweilen darzustellen beliebte – vielmehr war jede noch so harsche Kritik aus seiner Feder, wie glücklicherweise gerade jetzt immer wieder betont wird, von enttäuschter Liebe diktiert: Er las eben lieber gute Bücher als schlechte, er lobte lieber, als zu verreißen, und er traute „seinen“ Autoren immer Höchstleistungen zu. Ob er tatsächlich der Auffassung war, einen nicht geringen Anteil am künstlerischen Triumph von Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ für sich beanspruchen zu dürfen, nämlich infolge der „pädagogischen“ Wirkung, die sein Verriß von „Jenseits der Liebe“ gezeitigt habe?

 

Der Tiefpunkt in beider Beziehung, den ich bewußt wahrnehmen konnte, schien mir im Sommer 1993 zu liegen, dokumentiert durch die Auseinandersetzungen um „Ohne einander“ und ein diesbezügliches „stern“-Interview mit Martin Walser. Darauf folgte offenbar eine langjährige Phase der Entspannung: In der Auseinandersetzung um „Ein weites Feld“, welches Reich-Ranicki nicht, wie fälschlich immer noch mancherorts behauptet wird, aus politischen Gründen kritisierte, sondern, weil hier die sattsam bekannten Ansichten von Günter Grass zur Wiedervereinigung allzu uninspiriert im Eins-zu-Eins-Maßstab von seinen Figuren artikuliert würden, ergriff Walser Reich-Ranickis Partei, betonte, den Roman nicht gelesen, bei der Lektüre von Reich-Ranickis die Form des offenen Briefs wählenden SPIEGEL-Artikel jedoch den Eindruck gehabt zu haben, aus diesen Zeilen spräche tatsächliches Bedauern angesichts des künstlerischen Scheiterns von Günter Grass.

 

Man berichtete mir von einer von Reich-Ranicki und Martin Walser im Frühjahr 1996 gemeinsam bestrittenen Veranstaltung in Frankfurt anläßlich des Erscheinens von „Finks Krieg“, die von einer entspannt-freundschaftlichen Atmosphäre getragen gewesen sei – Reich-Ranicki betonte seine Grundposition, von Walsers überragendem Talent überzeugt zu sein, dieses Talent aber nur in Teilen der „Ehen in Philippsburg“, in „Ein fliehendes Pferd“ und einigen Essays voll entfaltet sehen zu können. Walser, der sich unterdessen etwas einschenkte, muß dabei eine spaßige Geste á la „Muß ich jetzt etwas dazu sagen?“ gemacht haben und sei dann ohne weitere Bemerkungen zur Lesung geschritten. Reich-Ranickis Reaktionen auf „Finks Krieg“ und „Ein springender Brunnen“ im „Literarischen Quartett“ fielen moderat aus, und anläßlich der Paulskirchenrede nahm Reich-Ranicki Walser gegen Antisemitismusvorwürfe in Schutz.

 

Wie läßt sich der spätere Bruch erklären? Reich-Ranicki fügte seiner Verteidigung Walsers die Empfehlung bei, „Roß und Reiter“ zu nennen, um nicht mißverstanden zu werden, Walser wiederum wies in einem Essay den „Roß-und-Reiter-Quatsch“ von sich und verwies auf das Recht, mißverstanden werden zu dürfen. In „Mein Leben“ geht Reich-Ranicki dann hinsichtlich der Paulskirchenrede auf deutliche Distanz zu Walser, ohne ihn jedoch als Antisemiten zu werten. In jener „Solo“-Sendung im Frühjahr 2002, darin er die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass lobte, äußerte er die besten Hoffnungen bezüglich des für den Sommer angekündigten neuen Romans von Martin Walser. Der „Tod eines Kritikers“ führte indes zum Eklat, obgleich dieser Roman nichts Antisemitisches enthält. Reich-Ranicki korrigierte seine frühere Einschätzung, Walser sei kein Antisemit, in einer „Solo-Sendung“, ins Gegenteil. Auf der Beerdigung Siegfried Unselds ging man sich aus dem Weg. Später relativierte Reich-Ranicki seine Wertung: Walser sei zwar kein Antisemit, wohl aber habe ihn seine krankhafte Eitelkeit in die Irre geführt. Anders als Günter Grass habe er lediglich die Devise „Nie wieder Krieg“ verinnerlicht, nicht aber „Nie wieder Auschwitz“. Der Bruch war da und blieb bestehen. Eine Tragödie. Im „Kanon“ ist Walser gleichwohl vertreten.

 

 

Marcel Reich-Ranicki und Ernst Jünger

 

Ich wage die Behauptung, daß nach 1945, von Rolf Hochhuth und Ernst Herhaus abgesehen, niemand mehr für die literarische Anerkennung Ernst Jüngers in Deutschland getan hat als Marcel Reich-Ranicki – wenn auch eher unfreiwillig und infolge eines dialektischen Umkehrschlusses. Ernst Jünger ist mit seiner „Eberjagd“ in Reich-Ranickis Anthologie „Erfundene Wahrheit“ (1965) und mit einigen Stücken im fünften Teil des „Kanons“, der den „Essays“ gilt, vertreten. Allerdings betonte Reich-Ranicki stets, daß dieser Autor ihm fremd bliebe und daß er daher eine leise Genugtuung empfände, nichts über ihn publiziert zu haben. „Ich fühlte mich berufen zu schweigen.“ heißt es in „Mein Leben“, und im Gespräch mit Peter von Matt äußerte er Bedenken bezüglich der literarischen Qualität von „Auf den Marmorklippen“. Gleichwohl geriet Reich-Ranicki, der einmal gar betonte, hätte er in der Jury des Goethe-Preises gesessen, dann wäre dieser 1982 niemals an Jünger verliehen worden, zwangsläufig immer wieder in die Rolle des Jünger-Verteidigers, der zwar mit dessen Werk nichts anzufangen wüßte, dem er indes Talent nicht grundsätzlich abspräche und der gewiß kein Nazi gewesen sei – zuletzt anläßlich der Schilderung einer fiktiven Begegnung zwischen Ernst Jünger und Erich Maria Remarque in Günter Grass´ „Mein Jahrhundert“ im Jahre 1999. Auf diese Weise demonstrierte er am Beispiel Jüngers, wie man mit einem Autor umgehen müsse, der einem zwar nicht läge, dessen Qualitäten man aber nicht hinwegbügeln wolle und dessen Werk vor literarischer und politischer Verunglimpfung zu schützen die Pflicht bestehe. Stets betonte er, daß es auch hinsichtlich Ernst Jüngers allein um Literatur und nicht um Politik gehe. Gedankt hat es ihm die Jünger-Gemeinde nicht. Daß ihm die ganze Angelegenheit weiterhin nicht behagte, merkt man seinen späteren Äußerungen an, etwa seinen generellen Zurückweisungen von Fragen nach Ernst Jünger in seiner FAS-Kolumne oder in einem Fernsehgespräch mit Peter Voß anläßlich des „Kanons“ aus dem Jahre 2006, darin er einigen regimekritischen Bemerkungen in den „Strahlungen“ rein taktische Bedeutung zumaß. Auch das ist tragisch.

 

 

Marcel Reich-Ranicki und der Holocaust

 

Gewiß ist es nicht zutreffend, die vielen ablehnenden Reaktionen auf Reich-Ranicki von Schriftstellerseite, aber auch von Seiten der Literaturwissenschaft im Antisemitismus begründet zu sehen. Gleichwohl gibt es in unserer Gesellschaft immer noch einen nicht zu unterschätzenden braunen Bodensatz. Auf den Webseiten der taz wurde Ina Hartwigs Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki mit Kommentaren bedacht, die zu kommentieren wir uns ersparen wollen und die die taz schon bald löschte. Aber auch viel Gutes wurde dort geäußert. Eine sehr schöne Stellungnahme eines Users namens „Nachgeborener“ sei hier in voller Länge zitiert:

 

Die eigentliche Dimension dieses Lebens und öffentlichen Wirkens kann zur Gänze wohl nur erfassen, wer seine Autobiographie gelesen hat.

Der Tod Reich-Ranickis macht dieses Land ärmer. Einer der letzten wahrhaftigen Zeugen dieses schrecklichen Jahrhunderts, das gerade hinter uns liegt, läßt uns allein, in einer Zeit, die ohne Orientierung ist.

Sein wortmächtiges Beharren auf der geschriebenen Sprache als dem eigentlichen Selbst, dem Lesen und Schreiben als der Form des eigentlichen Selbstausdruckes, wird mehr als ernstlich fehlen.

Gerade, weil er darauf bestand, er mit seiner Geschichte, daß das geschriebene Wort etwas repräsentiert, was weit über uns einzelne hinausgeht, und was Gewalt, Totschlag und Folter deshalb nicht ausrotten können, hat er uns, die Nachgeborenen, mit gerettet, es möglich gemacht, daß wir den Verbrechen unserer Väter ins Auge sehen konnten. Ins Auge sehen konnten, ohne selbst vor Scham im Boden zu versinken.

Er hat uns vermittelt, daß dies nicht vonnöten wäre, daß wir lieber wieder lesen sollten, die Bücher, die er empfahl, oder halt andere.

Man kann das Verdrängung nennen, oder die allerhöchste Weisheit, Simplifizierung, oder sogar den höchsten Edelmut, dessen der Mensch fähig ist, sodaß uns Reich-Ranicki als ein tatsächlich Vollendeter entgegentritt.

Ein Leben, das Schaudern macht vor Ehrfurcht, vor Betroffenheit, vor Rührung, auch vor Entsetzen.“

 

Was fügen wir dem hinzu? Jede Veröffentlichung Reich-Ranickis, von seinen ersten Musikkritiken im Warschauer Ghetto bis hin zu seinen letzten Antworten bei „Fragen Sie Reich-Ranicki“ in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, und jeder seiner öffentlichen Auftritte, von der Tagung der Gruppe 47 Ende Oktober/Anfang November 1958 in Großholzleute bis zu seiner Rede im Bundestag am 27. Januar 2012 und seinen letzten Fernsehaufnahmen anläßlich des Skandalgedichts von Günter Grass über die vermeintlich den Weltfrieden gefährdende Atommacht Israel, repräsentierten den Triumph des Geistes und der Humanität über Ungeist und Inhumanität – wie die jedes Überlebenden, insbesondere aber derjenigen, die sich nicht genötigt sahen, ihrem Leben durch eigene Hand ein Ende zu setzen.

 

 

Eine Begegnung im Wald, ein Autogramm und ein Gedicht

 

An einem Sonntagnachmittag, es war der 26. 7. 1992, wanderte ich durch ein Waldstück in der Nähe der Schornhecke und der „Thüringer Hütte“ bei Wüstensachsen in der Rhön. Ein älteres Ehepaar kam mir entgegen, ich grüßte, wurde aber nur – skeptisch oder ängstlich? – von den beiden mit ihren Blicken gemessen. Einige Zeit später dämmerte mir: „Das waren Marcel Reich-Ranicki und seine Frau!“ Was tun? Umkehren und sie ansprechen? Das schien mir unangemessen, wohl aber legte ich meine weitere Route so fest, daß ich den Weg der beiden erneut kreuzen oder zumindest in ihre Nähe kommen würde – es blieb bei letzterem.

 

Die Geschichte meiner vermeintlichen Begegnung mit Reich-Ranicki machte später in der Schule die Runde – aber hatte ich Beweise zur Hand? Im Mai oder Juni 1996 sollte sich die Gelegenheit bieten, den Vorfall aufzuklären. Ich besuchte einen Vortrag Reich-Ranickis über „Kafka und die Frauen“ im „Jüdischen Gemeindehaus“ in Frankfurt. Nachher ergab sich die Möglichkeit, mir meine Eintrittskarte von Reich-Ranicki signieren zu lassen und sowohl ihn, als auch seine Frau bezüglich jenes sommerlichen Rhönausflugs zu befragen. Beide negierten jedoch die Möglichkeit, mir dort begegnet zu sein – Wanderungen in der Rhön waren offenbar nicht so ihre Sache.

 

Nun gut – dafür hatte ich sie eben jetzt kennengelernt! Einige Wochen später sollte das Ganze indes noch eine Steigerung erfahren: Rolf Hochhuth hatte diesen Sommer die Frankfurter Poetik-Dozentur inne, und zur Abschiedsfeier im Literaturhaus trug ich ein selbstverfaßtes Gedicht vor. Kurz vor Beginn meines Gedichtes öffnete sich die Eingangstür – Marcel Reich-Ranicki trat ein! Mein einziger Gedanke: „Jetzt kann nichts mehr schiefgehen!“ Nach meinem Vortrag, den Hochhuth und Reich-Ranicki andächtig lauschend nebeneinander stehend verfolgt hatten, fragte der Dramatiker den Kritiker, wie es ihm gefallen habe. Reich-Ranicki in etwa zu Hochhuth: „Fabelhaft!... ´Hitze´ auf ´Spitze´... Er ist kein Freund von freien Rhythmen... Das Reimen beherrscht er aber sehr gut!“. Ich trat schließlich auf Reich-Ranicki zu, drückte ihm die Hand und sagte ihm, daß ich geehrt durch sein Lob meines Gedichtes sei – wenn er später auch meine Romane entsprechend positiv beurteilen würde...

Darauf er: „Hah! Romane!!!“

Sein darauffolgendes Gespräch mit Hochhuth machte uns alle wieder zu Zuschauern. Wie beim Pingpongspiel wandten sich unsere Häupter stets in Richtung dessen, der gerade sprach.

Romane habe ich (noch) keine geschrieben und hege diesbezüglich momentan auch keine konkreten Absichten, zu dichten pflege ich aber weiterhin, wenn auch nur in privatem Rahmen.

 

 

Das Sterben

 

Ich war am Nachmittag des 29. April 2011, einem Freitag, gerade beim Trampen, als die Nachricht vom Tode Teofila Reich-Ranickis durch das Radio kam. Gespannt lauschte der Fahrer daraufhin meiner Erzählung von meiner Begegnung oder meinen Begegnungen mit einem der größten Liebespaare des 20. Jahrhunderts. Begegnungen? Ich bleibe dabei – damals in der Rhön, das waren die Reich-Ranickis! Filmaufnahmen der beiden bestärken mich in meiner Annahme.

 

Vergangene Woche, am Montagnachmittag, sinke ich ermüdet nieder, um etwas auszuruhen, und greife dabei, wie üblich, wahllos nach einem meiner Bücherstapel: Reich-Ranickis „Nachprüfung“ liegt in meiner Hand, eine noch sehr gut erhaltene dtv-Ausgabe von Mitte der 1980er Jahre, die ich in letzter Zeit häufiger zur Hand genommen hatte – ein befreundeter Antiquar und Schriftsteller, der heutzutage in seiner literarhistorischen Bedeutung immer noch unterschätzte deutschsprachige Science Fiction–Klassiker Jürgen Duensing (besser bekannt unter seinem Pseudonym J. C. Dwynn), hatte sie mir unlängst geschenkt. Ich schlage das Buch auf und stelle fest, daß ich bis zu diesem Tag einen handschriftlichen Eintrag auf dem Titelblatt übersehen hatte – eine Widmung von Reich-Ranicki für einen der Vorbesitzer? Der Vergleich mit meinem Autogramm von 1996 läßt diese Möglichkeit realistisch erscheinen.

 

Zwei Tage später, am Nachmittag des 18. September 2013, einem Mittwoch, vernahm ich die Nachricht vom Tode Marcel Reich-Ranickis. Was bleibt? Mir bleibt der Rest des Fadens – und daß ich den beiden begegnen durfte, wie oft nun auch immer.

 

 

Eine Befürchtung

 

Angenommen, ich arbeitete zu früheren Zeiten als Redakteur unter Reich-Ranicki und legte ihm diesen Nachruf vor: Hätte er ihn akzeptiert? Oder hätte er mich in sein Büro gebeten, mit den Worten: „Kommen Sie, Herr Pfleger, schließen Sie die Tür hinter sich, und setzen Sie sich!“? Ich befürchte fast letzteres. Und dann hätte er damit begonnen, mir meinen Text vorzulesen...