mina tiereSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Dezember 2020 , Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nach den 346 Seiten mußte ich erst einmal tief durchatmen. Denn was man hier über Leben in Glasgow erfährt, läßt einem kalte Schauer über den Rücken laufen. Das Schlimme ist, daß man das nicht einmal für unwahrscheinlich hält, wie korruptionsverseucht die dortige Polizei und heimische Politik sind.

Wir durchlesen eine Tour de Force und haben mit Leuten zu tun, die sehr selten handelnde Personen in Kriminalromanen sind, sei es der über und über tätowierten Martin Pavel, ein junger Amerikaner, der gerade von seinem Opa ein Millionen-, ach was, eher ein Milliardenvermögen geerbt hat, von dem er seinen Eltern, Mutter mit Stiefvater, Vater mit Stiefmutter, die mit Absicht nicht bedacht worden sind – was übrigens in Deutschland so nicht ginge, da den Kindern eines Erblassers der Pflichtteil zusteht – eine Million anbietet, nur damit sie ihn in Ruhe lassen; sei es der sexsüchtige, charismatische Labourpolitiker Kenny Gallagher, an dem man die Verführbarkeit von Macht wie unter dem Brennglas beobachten kann und auch, wie abhängig manche Männer von ihrem angebliche besten Stück sind; sei es der hochrangige Beamte der Kriminalpolizei, dessen Namen wir hier noch nicht verraten dürfen, der dafür sorgt, daß sich Verbrechen in Glasgow lohnen – schon deshalb,weil er rechtzeitig Tipps gibt, bzw. Beweise verschwinden läßt. Der absolute Horror für aufrechte Ermittler, wenn sie selbst dazu beitragen, daß ihr Vorgesetzter die Verbrechen noch besser lenken kann.

Dagegen sind die kurzfristigen Unterschlagungen von über 200 000 Pfund durch zwei Streife fahrende Polizisten, die lesbische Tamsin Leonhard, deren Frau gerade eine befruchtete Eizelle eingepflanzt erhielt, weswegen DC Leonhard nervös ist und ihr privates Handy bei sich trägt, was verboten ist, und das arme Schwein DC Wilder, der gerade von Frau mitsamt den Kindern verlassen worden ist, läßliche Sünden. In der Tat machen einen die Vielzahl der noch dazu skurrilen Personen mit einem extrem unterschiedlichen Leben fast schwindelig, weil sie so individuell gezeichnet sind, daß man beim Lesen das bunte Geschehen wie in einem Film vorüberziehen sieht.

Die Handlung beginnt mit einem Banküberfall durch einen Maskierten mit Schußwaffe eine Woche vor Weihnachten, was Überraschungen für Martin Pavel mit sich bringt, der in der Schlange der Bankkunden hinter einem Opa mit seinem kleinen Enkel steht, als dieser erst den Jungen in die Arme von Pavel schubst und dazu flüstert:“Er gehört zu Dir“ und dann laut dem Bankräuber zuruft: „Du!“, was dieser erwidert:“Du?“und ihn erst die Tasche fürs Überfallgeld halten läßt und dann erschießt.

Sehr eigenartig und für die Dabeiseienden nicht durchschaubar. Dies aufzuklären, wen der ehrenwerte Brendan Lyons als Bankräuber gesehen hatte, was ihn das Leben kostete, ist Aufgabe von DS Alex Morrow und ist Inhalt dieses Romans, der es in sich hat. Am Schluß wird Brendan Lyons immer noch der ehrenwerteste Mensch sein, den die Glasgower kennen, aber wir wissen nun, wie schwer ein aufrechtes Leben als Gewerkschafter, Interessenvertreter und hundertprozentiger Kommunist in der schottischen Hauptstadt ist, denn die Korruption wuchert überall und um Arbeiter- und Taxifahrerinteressen zu vertreten, muß man manchmal mitspielen oder auch nur so tun. Seine Familie kann davon ein Lied singen, denn inmitten von kaputten Familien, hurenden Ehemännern, drogenabhängigen Jugendlichen lebt seine Großfamilie wie von gestern. Im gemeinsamen Haus mit dem Charme der Arbeiterklasse, die Uroma, Oma Rita und Opa Brendan, Tochter Rosie und Enkel Joe, derjenige, den Martin beim Überfall bei sich hielt, was ihm, den in der kalten Luft hängenden Milliardär, für immer an die Wärme dieser richtigen Familie bindet.

Damit ist der Rahmen gesteckt, in dem Alex Morrow mit den zuverlässigen und den verführbaren Kriminalen den Mord und all die anderen kleinen und großen Schweinereien aufdeckt und die Verantwortlichen dingfest macht. Fast alle.


Fortsetzung folgt

DIE KRIMIBESTENLISTE DEZEMBER

1(1)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch
unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.


2(-)
Dominique Manotti
Marseille 73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag, 400 Seiten, 23 Euro
Als ein verrückter Araber einen Busfahrer ersticht, legen die Fremdenhasser los. Malek, 16, Berufsschüler, wird niedergeschossen. Commissaire Daquin und sein Team
agieren taktisch klug, fast allein gegen Ausländerhass, Mordwut, Verlustangst, Rassisten im Apparat. All das gab es schon in Marseille 1973.


3(6)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?
Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Dr junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen
alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.


4(-)
Mick Herron
Real Tigers
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes, 480 Seiten, 18 Euro
London. Ein angeheuertes „Tiger-Team“ greift testhalber den Geheimdienst MI5
an. So der trickreiche Plan. Was aber, wenn die Tiger real sind? Jackson Lambs
Agenten, eigentlich auf dem Abschiebegleis, zeigen, was sie draufhaben. Halsbrecherische Satire auf die eitle Upper Class und ihre Spy-Bürokratie.


5(3)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europaverlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für
Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und
besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und
Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.


6(10)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro
Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmac, die
fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und
Mi’gmac William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho:
Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.


7(4)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,
sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des
Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.


8(2)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, Hauptstadt-Cops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.


9(-)
Nick Kolakowski
Love & Bullets
Aus dem Englischen Stefan Lux.
Suhrkamp, 427 Seiten, 11 Euro
New York City, Nicaragua, Oklahoma. „Glory, glory, paranoia“ – Dandy-Betrüger
Bill und Killerin Fiona, ein Liebespaar auf der Flucht vor dem Mob, den sie gelinkt
haben. Herzhaft durchgeknallte Gangstergroteske. Highlight: Ein Tesla gleitet mit
geköpftem Fahrer im autonomen Modus durch Manhattan.


10(-)
Nathaniel Rich
King Zeno
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 24 Euro
New Orleans schwitzt 1919 vor Angst. Die Spanische Grippe wütet, ein Axtmörder treibt sein Unwesen, beim Bau des Binnenhafens wird Urwald vernichtet, und
weitere Leichen tauchen auf. Im Chaos findet ein junger schwarzer Jazzmusiker seinen Stil. Beklemmendes Panorama, vor Corona verfasst.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings noch nicht einmal über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen  der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9

Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20046-auf-platz-1-garry-disher-mit-hope-hill-drive-aus-dem-unionsverlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20047-uebersicht-ueber-die-fuenf-neuen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20071-american-spy-der-bluthund-blues-in-new-iberia-paradise-city-meier
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20072-marcie-rendon-stadt-land-raub-auf-platz-8

Besprechungen der Krimibestenliste im November
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20334-auf-platz-1-geschossen-goetter-und-tiere-von-denise-mina-ariadne
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20335-brandsaetze-von-step-cha-ars-vivendi-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20340-nicht-mehr-dabei-london-burning-von-parker-bilal-rowohlt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20513-taqawan-von-eric-plamodon-lenos-verlag-auf-platz

Besprechungen der Krimibestenliste im Dezember
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag