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Kategorie: Bücher
Bildschirmfoto 2020 12 07 um 23.09.31Mick Herron, DEAD LIONS, Diogenes Verlag, Teil 2/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der vorige Artikel war nur eine Kurzfassung über die historischen Verfaßtheiten des britischen Geheimdienstes, die aber gut geeignet sind für den Roman, um den es jetzt geht: DEAD LIONS von Mick Herron. Der spielt rein im Bereich des Mi5, der dem Innenminister unterstellt ist und dessen Motto lautet: Regnum defende, auf Deutsch: Verteidige das Königreich!

Auf der Rückseite des Bandes, der als ‚Ein Fall für Jackson Lamb‘, hier der zweite, immer denselben Einband hat, nur die Farben, hier rosa, wechseln, steht: „Die besten Krimis? Ein Brite übernimmt die Spitze: Mick Herron“ FAZ

Da fängt man doch mit großen Erwartungen an zu lesen....und die Grundkonstellation ist ja auch phänomenal! Wir haben doch alle etwas übrig für die Ausgebooteten, die durch‘s Netz fallen, die durch Hautfarbe, Geschlecht oder sonst was diskriminiert werden, immer wieder einer Sucht verfallen oder nur einfach mal Pech gehabt haben. Solche nämlich werden aus dem englischen Inlandsgeheimdienst, dem Mi5, der am Regent's Park residiert, aussortiert, ausgegliedert, abgeschoben, werden SLOW HORSES genannt, mit lahme Gäule ganz gut ins Deutsche gebracht und bekommen im SLOUGH HOUSE draußen in der Aldersgate Street in London Finsbury eine neue Heimat, was man mit Sumpfhaus nur wörtlich, aber mit DRECKSLOCH mit dem richtigen Beigeschmack übersetzt. Jeder hat beruflich Dreck am Stecken, was der Leiter des Dreckslochs Jackson Lamb mit seinen Dauerzigaretten, gehörigem Alkohol, durch Essensreste beschmutzte Kleidung, dem oft offenen Hosenstall auch äußerlich darstellt. Daß er wie ein rührender Herbergsvater für die Seinen sorgt, bekommt man erst später mit. Er bekommt für seine Leute die Aufträge, die dem ‚richtigen‘ Mi5 zu unwichtig, zu arbeitsreich, zu unbequem, zu nebensächlich, zu schmutzig sind.

Und jetzt kommt ein toller literarischer Trick des Autors. Wir erfahren beim jetzigen Personal genau, weshalb sie hierher weichen mußten und zwar, weil uns eine Katze, die sich von der Straße hierher verirrt, uns alles verrät. Am Schluß des Buches ist es auf Seite 473 eine Maus, die ins Slough House schlüpft und...aber so weit sind wir noch nicht, sind ja erst am Anfang mit der gegenwärtigen Belegschaft: Roderick Ho ist der Internetnerd und hockt inmitten von digitalem Schrott und guckt zu viel auf den Schirm aus privaten Gründen, er stalkt Frauen, währenddessen er ein Programm geschrieben hat, das seine Alltagsarbeit erledigt, die anderen attestieren ihm Autismus;  Catherine Standish hat gesoffen und tut es leider hin und wieder..., Min Harper und Louisa Guy werden auch privat ein Paar, Min Harper hatte in der U-Bahn eine DC mit Geheiminformationen liegengelassen, die am nächsten Tag in der Zeitung standen, Louisa Guy war nicht aufmerksam beim Verfolgen und es kam zum Schußwechsel, River Cartwright hat zwar das Zahlengedächtnis seines ebenfalls Geheimdienst-Opas geerbt, aber nicht die Gelassenheit, Prüfungsaufgaben so zu lösen, daß Katastrophen verhindert werden können. Shirley Dander hat‘s mit dem Koks und zuviel Kraft, zusammen mit Marcus Longridge ist sie Neue gekommen und leidet unter dem Verdacht, für die Vizechefin des Mi5 Dreckslochinterna in die Zentrale zu tragen, denn die äußerte sich so, daß sie alles erfährt und weiß auch wirklich...

Klingt doch echt interessant und mit so viel Vorschußlorbeeren quälte ich mich und quälte ich mich, fand es belanglos, durcheinander und war kurz davor, das Buch in die Ecke zu schmeißen – und dann, bestimmt erst so nach Seite 200 kam ich in einen Sog, eher ohne es zu merken, und las und las...es wurde 1 Uhr in der Nacht, 2, 3 ja 4 Uhr. ‚“Was dieses Haus braucht, ist ‚ne Katze“, murrt Lamb, aber es ist niemand da, der ihn hört.“, enden die DEAD LIONS, die toten Löwen, die auch nicht tot sind, sondern sich schlafend stellen. Ein toller Wurf!

Und so geht die Geschichte: Ein ehemaliger Mi5 wird tot in einem Bus auswärts gefunden. Jackson Lamb, Chef des Slough House, kannte ihn aus dem Berlin des Kalten Krieges und sucht nach Indizien, ob ein Mord vorliegt. Er findet welche, ein Handy mit dem Wort CICADAS, was ihm sofort etwas sagt, denn das hatte der sagenhafte Alexander Popow benutzt, bei dem man nicht sicher ist, ob es ihn wirklich gibt, geht es hier um einst sowjetische, jetzt russische Schläfer in den beschaulichen Cotswolds, wo in der einstigen US-Militärbasis Upshott jetzt angeblich harmlose Bürger mit ihren Kindern leben. Trotzdem wird River Cartwright seinen Einsatz dort nur mit Mühe überleben. Und leider wird einer seiner Kollegen in London kaltblütig ermordet, denn es ist was dran am Verdacht mit den Russen, nur ganz anders als gedacht.

James Webb vom MI5, der die Slow Horses verachtet, braucht zwei, Min Harper und Louisa Guy, als Personenschutz für einen russischen Hoffnungsträger, den Öl-Oligarchen Arkadi Paschkin, „wie der Dichter?“, der der Energiegeschäfte wegen nach London kommt, den er gerne umdrehen und als Informanten anwerben will, wobei ihn auch dessen Vorhut, die skrupellosen Gorillas Kyril und Piotr nicht nachdenklich machen. Und vor allem fallen nur den Slow Horses auf, daß es zwischen dem Tod des MI Mannes am Anfang, der noch zu Zeiten des Sowjetkommunismus agierte, und dem Kommen des Magnaten aus dem neuen Rußland, vielleicht Zusammenhänge gibt.

Und hier kommt erneut Jackson Lamb - wahrlich kein Lamm, auch kein Wolf im Schafspelz - ins Spiel; die Gründe, weshalb er das Drecksloch zu Recht leitet, erschließen sich seinen Untergebenen und auch dem Leser erst spät, aber mit Wucht. Das versöhnt auch mit dessen despektierlichen Verhaltensweisen, wie überhaupt der Leser konstatieren muß, daß hier keine idealen Helden als Ermittler arbeiten, sondern gerade diejenigen, die als Ausschuß gebrandmarkt waren, zeigen, daß sie keiner sind.

Eigentlich ein moralisches Ende von einem Roman ohne jegliches Moralisieren. Ein starkes Stück.

Ach so, die Blamage, die mir drohte? Gucken Sie auf die Überschrift. Da steht nix von Krimibestenliste Dezember 2020. Denn DEAD LIONS ist original schon 2013 erschienen, am 1. September 2019 bei Diogenes auf Deutsch. Auf der jetzigen Dezember-Krimibesteniste steht auf dem 4. Platz neu REAL TIGERS von Mick Herron, der 3. Jackson Lamb Fall, was mir Elisabeth Römer krimibestenlistensicher verklickerte. Aber Sie können sicher sein, daß ich diesen aktuellen dritten Band ganz schnell lesen und besprechen werde.

Foto:
Cover

Info:
Mick Herron, Dead Lions. Ein Fall für Jackson Lamb, Diogenes Verlag 2019
ISBN 978 3 257 07 046 0

Die Überschrift ist die Verkürzung des Zitats von S. 58 „Wenn Löwen gähnen, heißt das nicht, daß sie müde sind. Es heißt, daß sie aufwachen.“