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Kategorie: Bücher
real tigersSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Dezember 2020 , Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Ernst, schauen Sie sich erst an:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20693-warum-der-englische-geheimdienst-sozusagen-der-der-ganzen-welt-wurde
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20694-wenn-loewen-gaehnen-sind-sie-nicht-muede-sondern-erwachen
Denn die Realen Tiger sind als dritter Band des frechen Erzählers eine reale Fortsetzung der Scheintoten Löwen und der Lahmen Gäule.

Der traut sich was, dieser Mick Herron, denn natürlich kann man den Ausflug in die Politik, die in diesem Krimi folgenschwer erfolgt, nicht lesen, ohne bei bestimmten Leuten mit hochgepuschten weißblonden Haaren an gewisse Herren, nein, nur den gegenwärtigen Anführer der englischen Tories sehen. Aber, wie er das macht. Genial. Zumal er alle Krimileser und potentiellen Krimileser bedient:

die, die nur ihren intellektuellen Spaß haben wollen,
die, denen der britische Geheimdienst immer die Lektüre wert ist,
die, die alles Englische goutieren,
die, denen, die schon immer wußten, daß Politik ein übles Geschäft ist,
die, die gespannt auf die Fortsetzung der Slow Horses, also der um einem Mann dezimierten Belegschaft im Slough House warten, oder auch
die, die einfach einen guten Krimi lesen wollen: denn das ist er: REAL TIGERS.

Was das heißt, entschlüsselt sich im Roman selbst. Aber – und jetzt wissen wir nicht genau, ob wir das schon verraten sollen? Andererseits ist Tiger Team ein Fachbegriff, der hier nun unter den Bedingungen des Geheimdienstes und seiner obersten Spitze, dem britischen Innenminister, eine besondere Rolle spielt. Also, der Begriff Tiger Team meint eine Gruppe, die auf aggressive Weise von der eigenen Spitze her Schwachstellen einer Einrichtung erkunden soll – wirklich oder wie heute oft: im Internet, was wir hier auslassen -, um damit diese Unwägbarkeiten auszumerzen, was eben auch Personen sein können, die man dann abserviert oder Verfahren, die man ändert. Kurz gesagt sind es also Geheimkommandos, die die Belegschaft hinters Licht führen, um deren Strukturen auf Unsicherheiten und potentielle Gefahrenpunkte abzuklopfen. Was mit den Ergebnissen der Erkundung passiert, das ist die eigentliche Frage. Auf jeden Fall sind Tiger Teams gefährlich und lassen auch Leichen zurück.

Unsere inzwischen so vertrauten Slow Horses, der fette, eklige Chef Jackson Lamb, seine im Gegensatz dazu fast vornehme Büroleiterin Catherine Standish, der kleine River Cartwright und die anderen – darum sollten Sie ja die vorhergehenden Besprechungen lesen, damit sie die einzelnen abservierten personalen Geheimdienstwaffen – werden diesmal von der eigenen Institution beauftragt, die sie doch eigentlich als Sammelstelle für Versager aussortiert hatten. Aber es geht los mit der Entführung von Catherine, der sogar klar ist, daß sie sich dämlich verhält, aber von ihrem alten Kollegen und Kurz-Liebhaber – na, sowas, sie hatte auch außerhalb der Flasche, die sie erfolgreich aus ihrem Leben verbannt, einen Liebhaber? - erwartet sie keine Gefahr. Der Mensch denkt, doch der Krimi lenkt. Das ist jedoch erst der Anfang, an dem sich ihre Kollegen ob ihrer Abwesenheit erst mal dämlich aufführen, denn die denken, sie habe sich doch die Flasche gegeben, sei krank oder habe keine Lust....

Doch die eigentliche Geschichte spielt sich im Haupthaus ab, dem Secret Service im Regent‘s Park. Und wir lernen, was wir durch John le Carré ja schon ahnten, daß sich die Dortigen gegenseitig spinnefeind sind und Fallen stellen. Und jetzt kommt etwas, was man doch ausdrücklich betonen sollte. Obwohl der Hauptschurke in der Regierung sitzt, ja, genau der mit den Haaren, sind die weiteren Handlungsträger Frauen, wobei Dame Ingrid die Chefin des SIS ist und Diana Taverner eine ihrer Abteilungsleiterinnen, die aber meint, daß ihr die Chefposition zusteht! Wenn man dann noch die entführte Catherine hinzunimmt und feststellt, daß beim Versuch, Catherine freizupressen wieder mal eine Frau sich hervortut, hat man nur die eine Hälfte. Die anderen nämlich müssen sich um den Sch...kümmern, der durch die im Militärdienst verrohten Männer durch den Auftrag von oben in Gang kam, zu der die Entführung zählte, die aber eine Nebenpointe hat. Derjenige, der im Auftrag arbeite, erledigt seinen Chef, der wiederum ..... Das sprengt das Tigerteam, und feuert die Handlung an.

Und so kommt es dazu, daß die als lahme Gäule abgeschobenen Geheimdienstler offiziell vom ‚richtigen‘ Secret Service beauftragt werden, aus den im Geheimdienstkeller weit draußen versteckten Alt-Unterlagen, die Grauen Bücher, zu entwenden,ohne daß dies offiziell bekannt wird. Ihre Gegner sind ein inoffiziell abgesandter Kämpfer des SIS und eine Gruppe von Sicherheitskräften, die außer Kontrolle geraten sind. Alles Männer. Die haben allerdings nicht mit den Frauen vom Slough House gerechnet. Denn den ganzen Krimi hindurch erleben Sie, wie fit die, ach was, Frauen können ja keine lahmen Gäule sein, höchstens lahme Mähren, also wie fit diese lahmen Mähren sind und sich körperlich mit Köpfchen gegen stärkere Männer durchsetzen, ob sie nun gekokst haben oder nicht. Und auch die trockene Alkoholikerin Catherine hat ihren Kampf gegen die Flasche Wein gewonnen, die ihr ein Entführer nicht aus Zynismus, sondern aus Sympathie auf‘s Essentablett gestellt hatte. Sie hat die alkoholische Herausforderung einfach ins Waschbecken gegossen. Das ist deshalb witzig, weil die Leserin beim langewährenden Kampf der Catherine gegen die Weinflasche, ihr dauernd innerlich empfahl: „Gieß sie doch ins Klo!“, nur damit das Problem aus der Welt ist.

Auf diese Weise schmuggelt Autor Mick Herron die Leser in die Geschichte hinein, in der man häufiger, als es beim Lesen sonst der Fall ist, zum Agieren, zumindest zum Vorschläge Machen, zum Tippgeben verführt wird. Man freut sich schon richtig auf den vierten Fall, auch wenn das noch dauern wird. Da ist noch viel Luft nach allen Seiten.

Fortsetzung folgt


DIE KRIMIBESTENLISTE DEZEMBER

1(1)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch
unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.

2(-)
Dominique Manotti
Marseille 73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag, 400 Seiten, 23 Euro
Als ein verrückter Araber einen Busfahrer ersticht, legen die Fremdenhasser los. Malek, 16, Berufsschüler, wird niedergeschossen. Commissaire Daquin und sein Team
agieren taktisch klug, fast allein gegen Ausländerhass, Mordwut, Verlustangst, Rassisten im Apparat. All das gab es schon in Marseille 1973.

3(6)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?
Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Dr junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen
alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.

4(-)
Mick Herron
Real Tigers
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes, 480 Seiten, 18 Euro
London. Ein angeheuertes „Tiger-Team“ greift testhalber den Geheimdienst MI5
an. So der trickreiche Plan. Was aber, wenn die Tiger real sind? Jackson Lambs
Agenten, eigentlich auf dem Abschiebegleis, zeigen, was sie draufhaben. Halsbrecherische Satire auf die eitle Upper Class und ihre Spy-Bürokratie.

5(3)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europaverlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für
Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und
besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und
Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.

6(10)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro
Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmac, die
fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und
Mi’gmac William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho:
Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.

7(4)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,
sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des
Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.

8(2)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, Hauptstadt-Cops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.

9(-)
Nick Kolakowski
Love & Bullets
Aus dem Englischen Stefan Lux.
Suhrkamp, 427 Seiten, 11 Euro
New York City, Nicaragua, Oklahoma. „Glory, glory, paranoia“ – Dandy-Betrüger
Bill und Killerin Fiona, ein Liebespaar auf der Flucht vor dem Mob, den sie gelinkt
haben. Herzhaft durchgeknallte Gangstergroteske. Highlight: Ein Tesla gleitet mit
geköpftem Fahrer im autonomen Modus durch Manhattan.

10(-)
Nathaniel Rich
King Zeno
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 24 Euro
New Orleans schwitzt 1919 vor Angst. Die Spanische Grippe wütet, ein Axtmörder treibt sein Unwesen, beim Bau des Binnenhafens wird Urwald vernichtet, und
weitere Leichen tauchen auf. Im Chaos findet ein junger schwarzer Jazzmusiker seinen Stil. Beklemmendes Panorama, vor Corona verfasst.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings noch nicht einmal über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen  der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9

Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20046-auf-platz-1-garry-disher-mit-hope-hill-drive-aus-dem-unionsverlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20047-uebersicht-ueber-die-fuenf-neuen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20071-american-spy-der-bluthund-blues-in-new-iberia-paradise-city-meier
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20072-marcie-rendon-stadt-land-raub-auf-platz-8

Besprechungen der Krimibestenliste im November
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20334-auf-platz-1-geschossen-goetter-und-tiere-von-denise-mina-ariadne
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20335-brandsaetze-von-step-cha-ars-vivendi-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20340-nicht-mehr-dabei-london-burning-von-parker-bilal-rowohlt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20513-taqawan-von-eric-plamodon-lenos-verlag-auf-platz

Besprechungen der Krimibestenliste im Dezember
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag



Zusätzliches Info:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20693-warum-der-englische-geheimdienst-sozusagen-der-der-ganzen-welt-wurde
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20694-wenn-loewen-gaehnen-sind-sie-nicht-muede-sondern-erwachen