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Kategorie: Bücher
Bildschirmfoto 2021 01 18 um 00.29.28Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Januar 2021 , Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nicht mehr dabei ist aber auch DAMMBRUCH, ein aufregender Bericht über die große Flut 1961 in Hamburg, für die, wer das damals miterlebte, nein, nicht persönlich, sondern in den Medien, für die also für ewig der mit fast 97 Jahren verstorbene Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015) der Retter der Nation wurde.

Auf der Novemberliste erstmals und gut in der Mitte plaziert, freute man sich über Zweierlei: daß drei deutsche Krimis dabei sind, während in der Januarliste wieder fast nur die englische Übersetzung vorliegt (fast, weil je einer aus dem Französischen und dem Tschechischen! übersetzt wurde) und daß sich bei uns eine Tendenz fortsetzt, für die jüngst auch Max Annas mit seiner Morduntersuchungskommission der DDR steht, Krimihandlungen der Vergangenheit herauszustellen, also mit der Krimihandlung auch Zeitgeschichte zu beleuchten. Unter dem Stichwort historische Krimis galten bisher solche wie die netten Krimis aus der Keltenzeit oder dem Mittelalter, auch die über das Venedig im 19. Jahrhundert etc. Aber die Zeitgeschichte im Blick zu haben, die zeigt, wie unsere Verhältnisse so geworden sind, wie sie sind, ist sehr interessant.

Wenn man also an die große Flut denkt, die für Deutschland ungewöhnlich eine echte Naturkatastrophe war, dann denkt man bei den Flutwellen an Dramatisches. Aber was kann bei einer Sturmflut ein Krimi sein.Da fällt einem nicht viel ein, es sei denn, daß geplündert wird, Geschäfte ausgeräumt, private geflutete Häuser und Wohnungen ausgeräubert werden. Aber ein Krimi? Schließlich sind Morde unter solchen Bedingungen, wo jeder sein eigenes Leben retten will, irgendwie nicht wahrscheinlich. Also wird der Held wohl einer sein, der Leben rettet, der der Naturgewalt widersteht. Einer gegen die Flut. Aber wo bleibt da der Krimi?

Wie man dann beim Lesen merkt, ist alles ganz anders. Und da muß man etwas zu dem Autor sagen, der einerseits anerkannt, andererseits noch nie auf der Krimibestenliste stand. Denn ihn kennen viel mehr Leser, als sie wissen. Denn Robert Brack schreibt sehr Unterschiedliches und das unter verschiedenen Namen u.a. Ronald Gutberlet. Fast immer allerdings ist Hamburg und dort S. Pauli, wo er arbeitet, das Zentrum des Geschehens. Wenn man nun DAMMBRUCH beginnt, fühlte ich mich gar nicht Anfang der 60er Jahre, von denen ich auch vom Alter her nicht wüßte, wie es wirklich war, sondern ich fühlte mich erinnert an die Zwanziger Jahre, aber auch, und das gilt stärker, an Romane wie DER GOLDENE HANDSCHUH von Heinz Strunk über den Frauenmörder Fritz Honka in den Siebziger Jahren. Das gilt nur für das geschilderte Milieu, eine Kiezkneipe, in der wir Bracks literarisches Personal kennenlernen. Da ist Einbrecher Lucius ‚Lou‘ Rinke, der gerade aus dem Knast kommt und sein letztes großes Ding drehen will, wonach er sich nie wieder um sein Auskommen kümmern muß, also auch nie wieder Straftaten begehen. Nur diese eine. „Daß er altmodisch war, lag vielleicht daran, daß er einen unerheblichen Teil seines noch jungen Lebens hinter Gittern verbracht hatte, wodurch seine Verbindung zum Alltag immer wieder unterbrochen worden war.“

Vielleicht ist diese Begründung tatsächlich der Grund dafür, daß ich den Roman aus der Zeit gefallen fand, was keine Kritik ist, denn grundsätzlich ist Rinke kein unsympathischer Typ, sondern genau einer, dem die Sympathie des Lesers, daß er auch mal was Positives erleben soll, sicher ist. Wie das mit seiner linken Familientradition wirklich aussieht, kann man höchstens am Umgang mit dem Jungen sehen, den er wie seinesgleichen behandelt Er sieht ihn an der Ecke stehen, hält ihn für sehr jung, etwas schnöselig, wird aber dann durch seine ehrlichen Antworten für ihn, für Peter Kummerfelt eingenommen und nennt ihn Piet.

Fein, wie wir die Atmosphäre in der Kneipe mitbekommen. Brack erzählt nicht viel, sondern läßt die Leute reden. Sehr langsam entwickelt sich erst das, was für Rinke das große, letzte Ding sein soll. In einem der großen Dampfer im Hafen wird in einem Tresor Gold – Goldbarren, Goldmünzen, Schmuck - illegal gehortet, das ihm erst den Weg nach Kuba ebnen soll und dann seine Existenz im sozialistischen Bruderland in der Karibik lebenslang garantieren soll. Der Traum von Sonne, Süden und Frieden.

Während Rinke erst die Schweißgeräte und anderes Werkzeug ordert, erfahren wir in einer Parallelhandlung einmal vom Polizeiobermeister Mattei von der Polizeidienststelle Wilhelmsburg, der gerade interessiert das Bild eine jungen blonden Frau studiert. Interessiert, weil sie schön ist, diese Frau, die gesucht wird und der eine Leidenschaft für Soldaten nachgesagt wird, denn tote Soldaten pflastern ihren Weg. Wir lernen sie kennen, als sie in der Postfiliale eine Überweisung an die „Deutsche Soldaten-Zeitung“ aufgibt und bezahlt mit dem Text: „Fürsorgliche Schlesierin pflegt gerne deutsche Kriegsversehrte gegen einen angemessenen Unkostenbeitrag. Angebote bitte unter Chiffre.“ Aha, und schon sind wir auf den nächsten Seiten dabei, wie sie den nächsten um die Ecke bringen wird. Und wieder stellt man bei sich fest, man ist ja auf ihrer Seite, denn der Kerl ist wirklich übel und sexistisch dazu.

Und im Nachhinein denkt man sich, als sich die beiden, Rinke und sie zufällig begegnen und eigentlich Gefallen aneinander hätten, hätten sie das doch an Ort und Stelle an der Bar ausgebaut, aber nein, sie gehen ihrer Wege und die führen ins Unglück. Betty ist faszinierend und genau die Mischung zwischen impulsiv und zurückhaltend, sexuell attraktiv dazu. Doch die eigentliche Handlung gilt dann dem Raub des Goldes, wo gleichzeitig nach heftigem Wind schon längst die Flutwelle kommt, aber noch nicht im Erfahrungshorizont der Hamburger überhaupt als Gefahr wahrgenommen wird, was sich dann aber als Vincinette mit einer solchen Gewalt über die Straßen ergießt, die Autos wegspült, die Häuser unterhöhlt und die Menschen verschlingt. Wenn das schon an Land passiert, was erst am Ufer, wo der Frachter lagert und Rinke immerhin fündig wird.

Was sich dann in einem Strudel von Wasser ereignet, ist so unglaublich und wirklich mitreißend geschrieben, daß man seinen Augen nicht traut. Wie sich hier wiederum die Schicksale aller drei in den Wassermassen verbinden, wieder trennen, hat genau die selbe Naturgewalt wie das Wasser selber. Rinke wird man die alte Kleinbürgerweisheit vorhalten müssen: „Nicht so hoch hinaus, es geht übel aus.“

Fortsetzung folgt

DIE KRIMIBESTENLISTE JANUAR

1 (–) Candice Fox: Dark
Aus dem Englischen von
Andrea O’Brien.
Suhrkamp, 394 Seiten, 15,95 Euro

Los Angeles. Irgendwo ist die Beute von einem Bankraub versteckt. Aber das spielt
erstmal keine Rolle, denn die Tochter der Diebin Sneak ist verschwunden. Vier
Frauen, eine Ärztin und verurteilte Mörderin, eine Detective, eine Gangsterin und
die Mutter suchen sie. Im Dunkel des Sunshine State. Rabiat.


2 (2) Dominique Manotti: Marseille 73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag,
400 Seiten, 23 Euro

Als ein verrückter Araber einen Busfahrer ersticht, legen die Fremdenhasser los.
Malek, 16, Berufsschüler, wird niedergeschossen. Commissaire Daquin und sein
Team agieren taktisch klug, fast allein gegen Ausländerhass, Mordwut, Verlustangst,
Rassisten im Apparat. All das gab es schon in Marseille 1973.


3 (1) Denise Mina: Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag,
352 Seiten, 21 Euro

Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch
unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.


4 (–) Tim MacGabhann:
Der erste Tote
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp, 274 Seiten, 15,95 Euro

Poza Rica, Mexiko. Blutiges Erdöl. Der irische Journalist Andrew und der Fotograf
Carlos stolpern über einen massakrierten Öko-Aktivisten. Als auch Carlos ermordet
wird – von einem Polizisten –, überwindet Andrew seine Angst und recherchiert:
Staat & US-Konzerne vereint gegen Natur und Indigene.


5 (–) Robert Galbraith: Böses Blut
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz.
Blanvalet, 1194 Seiten, 26 Euro

London, England. Strike und Robin haben einen Cold Case: Vor 40 Jahren verschwand eine Ärztin.
Ein Serienmörder ist verdächtig, jetzt will die Tochter Wahrheit. Ergebnis wie Lösungsweg können Vorurteile Hegenden
nicht gefallen. Galbraith seziert Beziehungszwänge. Gekonnt weitschweifige Bösartigkeit.


6 (–) Samantha Harvey:
Westwind
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs.
Atrium, 382 Seiten, 22 Euro

„Oakham“, Somerset 1491. Der reichste Mann des ärmsten Dorfes ist tot, der Dekan
steckt seine Nase in alle Ritzen, Pfarrer John Reve möchte nicht „Richter und
Sheriff“ zugleich sein. Als ließe sich die Zeit zurückdrehen, erzählt Reves Ich vier
Tage rückwärts: Scham, (geistige) Armut, Lügen.


7 (4) Mick Herron: Real Tigers
Aus dem Englischen von
Stefanie Schäfer.
Diogenes, 480 Seiten, 18 Euro

London. Ein angeheuertes „Tiger-Team“ greift testhalber den Geheimdienst MI5
an. So der trickreiche Plan. Was aber, wenn die Tiger real sind? Jackson Lambs
Agenten, eigentlich auf dem Abschiebegleis, zeigen, was sie draufhaben. Halsbrecherische Satire auf die eitle Upper Class und ihre Spy-Bürokratie.


8 (–) Nicci French: Eine bittere Wahrheit
Aus dem Englischen von
Birgit Moosmüller.
C. Bertelsmann, 506 Seiten, 16 Euro

„Okeham“, England. Tabitha ist in das Dorf ihrer Jugend zurückgekehrt, hat den
Lehrer von damals tot im Schuppen gefunden und sitzt jetzt unter Mordanklage in
Untersuchungshaft: depressiv, von Medikamenten benebelt, sich selbst verteidigend
ohne Beistand. Psychologisch fein, leise Spannung.


9 (–) Iva Procházková: Die Residentur
Aus dem Tschechischen von
Mirko Kraetsch.
Braumüller, 573 Seiten, 24 Euro

Prag. Junge Tschechen im Widerstand gegen Eltern und Subordination unter Großrussland, bewaffnet für die Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepublik „Kasmenien“.
Mischung aus Familien-, Gesellschafts- und Spionageroman mit satirischen Pfeilen
in alle Richtungen, besonders gegen postsowjetische Duckmäuserei.


10 (–) David Whish-Wilson:
Das große Aufräumen
Aus dem Englischen von Sven Koch.
Suhrkamp, 327 Seiten, 10 Euro

Perth 1983. Ex-Superintendent Swann, jetzt Privatdetektiv, soll dem neuen Premier
die unsauberen Wege ebnen. Mit und gegen Bikerclubs, korrupte Polizeibanden,
lokale Gangster, Baulöwen und Spindoctors. Swann verfolgt seine eigene Agenda:
treu, mit leichten Skrupeln, kompromisslos clever und rau.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2021 sind allerdings noch nicht einmal über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachdrucken.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war nach demeine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute

Besprechungen der Krimibestenliste im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21023-unter-den-ausgeschiedenen-dammbruch-von-robert-brack