der bruchSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im März 2021,  Teil 5
  
Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Verführer ist der schottische Autor, der nicht das verbrecherlastige Glasgow, sondern die Hauptstadt Edingburgh zum Schauplatz wählt. Er verführt uns, über Leben und Seele des 17jährigen Tyler Wallace zu wachen und ihm nicht nur Glück zu wünschen, sondern an gewissen Stellen ihn immer innerlich laut zuzurufen, nun sag‘s ihr schon, ihr der Polizistin Pearce, die es gut meint und auch Recht hat. Aber am Schluß war er vielleicht doch der Schlauere?!

Tyler ist einer von vier Kindern seiner drogensüchtigen und alkoholabhängigen Mutter Angela, die mit zwei Männern je zwei Kinder hat, wobei die Männer tot, auf jeden Fall abwesend sind. Der eigentliche und auch wirklich besonders widerliche Bösewicht ist Barry, der Tyrann der Familie, der mit seiner Schwester Kelly – die literarisch schwächste, weil nicht wirklich lebendige Figur – im Inzest lebt, was diese schon gewohnt war, weil der Vater sie mißbrauchte. Beide sind Kinder vom ersten Mann der Mutter , die sich durch massive Belästigungen der Vormieter die Nachbarwohnung sicherten in einem der beiden stehengelassenen verslumten Hochhäuser der Stadt, wo ganz oben auf dem Dach Tyler sein Wohlfühlquartier hat, wo er mit der kleinen Schwester Bean abhängt, ihr vorliest, ihr in jeder Hinsicht ein gutes Leben bietet. Er macht ihr auch Frühstück, zieht sie an, bringt sie zur Schule, macht ihr Essen, unterhält sie und hat sie lieb. Ein richtig toller Bruder, aber auch ein liebevoller Sohn, der auch im größten Elend der Mutter ihr ihre Abhängigkeit nicht vorwirft, sondern sie umsorgt. Eigentlich nimmt man Tyler nur übel, daß er seinem großen Bruder Barry nicht die Meinung geigt, aber da hatte man ja noch nicht gewußt, daß der nicht nur brutal, ja gemeingefährlich ist, sondern neben seinem Messer und der Schußwaffe auch noch zwei Hunde abgerichtet hat, die auf Aufforderung alles zu Tode beißen. Mehr als ein Früchtchen also, auch mehr als ein Familientyrann, ein Sadist und abgrundtief verdorbener Verbrecher, der ständig Kokain schnupft, an dem der Autor uns auch kein Fitzelchen Hoffnung läßt.

Wovon die Familie lebt, wird nicht klar, auf jeden Fall bringen Einbrüche den zusätzlichen Luxus wie Handys und Fernsehapparate. In dieser Gemengelage beginnt die Handlung mit dem Ausspähen eines geeigneten Hauses durch die drei älteren Geschwister, das sie finden und den Einbruch begehen, der aber jäh unterbrochen wird, durch die Frau des Hauses, Monica, die vom Joggen zurückkehrt und von Barry grundlos niedergestochen wird, die drei können fliehen. Nur Tyler ist nicht einverstanden mit der Tat des Bruders und benachrichtigt heimlich die Rettung und ruft auch später immer wieder im Krankenhaus an und besucht die nur dank seiner Hilfe Gerettete.

Sie hatten sich das falsche Haus ausgesucht, das wissen inzwischen alle drei, das Haus des Verbrecherbarons Deke Holt, der in großem Stil seine Leute arbeiten läßt, und den Bürgerlichen gibt. Also ist Vergeltung angesagt und da dieser Barry einersteis überheblich, andererseits dumm wie Brot ist, eine gefährliche Mischtung, nimmt er auch das fremde Auto mit und verscherbelt es billig, was genau der Anhaltspunkt für Holt ist, den Einbrechern auf die Spur zu kommen.

Doch vor diesem absoluten Shutdown ist es wichtig, von Flick, von Felicity Ashcroft zu sprechen. Sie und Tyler begegnen sich zufällig. Sie kommt aus besseren Verhältnissen, ist etwas älter, lebt in einem elitären Internat, während die Eltern im Auslandseinsatz sind und das Familienhaus leer steht. Die beiden sind sich in ihrer Verlorenheit gegenseitig Trost und verlieben sich sanft ineinander. Flicks Elternhaus wird Zufluchtsort für Tyler und Bean und später, als erst Kelly von Holt gefoltert und ermordet wird, und Barry und seine beiden Kampfhunde erschossen sind, gibt es eine Zukunft für Tyler und Flick, für die kleine Bean und Mutter Angela.

Der Krimi ist wirklich hervorragend geschrieben, ist berührend und hält die Spannung und die Anteilnahme bis zum Schluß. Und dennoch ist bei allem Wohlfühlen mit den Richtigen auch ein kleines Fragezeichen, ob der Roman nicht auf eine andere Weise als Pilcher doch etwas von Sozialkitsch in sich trägt.



Die Krimibestenliste

1(–) Merle Kröger
Die Experten
Suhrkamp,
688 Seiten, 20 Euro

Kairo, BRD, 60er Jahre. Rita Hellberg, 17, ist mit Vater, Flugzeugingenieur bei
Hitler und nun bei Nasser, und neurotischer Mutter unter die „Experten“ geraten.
Erste Liebe, Orient, Nazis, Anschläge, im Hintergrund BRD, Israel. Geschichte stört
Gegenwart. Dokumente, Fotos, Zitate – lies, verstehe das. Kolossal.

2 (–) Stephen Greenall:
Winter Traffic
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Suhrkamp, 494 Seiten, 16,95 Euro

Sydney, 1994. Detective Inkremental Sergeant Mick Rawson ist Legende. Ein rücksichtsloser,
versoffener Polizist mit hohen Wettschulden und mächtigen Feinden. Seine Chance: ein Überfall
auf einen Geldtransporter. Alltags-Epos eines gebrochenen Helden, gegen alle Erwartungen erzählt.
Eine Herausforderung.


3 (–) Patrícia Melo:
Gestapelte Frauen
Aus dem Portugiesischen von
Barbara Mesquita
Unionsverlag, 252 Seiten, 22 Euro

Acre, West-Brasilien. Femícidio. Die namenlose Ich-Erzählerin, Anwältin, erforscht
die Urteilsfindung über Frauenmorde: zu viele, gestapelt in ihrem Notizbuch. Eine
14-jährige Indigene wird von drei Upperclass-Jungs vergewaltigt und zerstückelt.
Mordermittlung, gellende Anklage, Rachephantasie. Femizid.


4 (3) Samantha Harvey:
Westwind
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
Atrium, 382 Seiten, 22 Euro

„Oakham“, Somerset 1491. Der reichste Mann des ärmsten Dorfes ist tot, der Dekan
steckt seine Nase in alle Ritzen, Pfarrer John Reve möchte nicht „Richter und
Sheriff“ zugleich sein. Als ließe sich die Zeit zurückdrehen, erzählt Reves Ich vier
Tage rückwärts: Scham, (geistige) Armut, Lügen.


5 (–) Ottessa Moshfegh:
Der Tod in ihren Händen
Aus dem Englischen von Anke Caroline
Burger. Hanser Berlin, 256 Seiten, 22 Euro

„Levant“, Osten der USA. „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie
ermordet hat.“ Ein Zettel im Garten alarmiert Vesta, 72, Witwe mit Hund. Ihr Job,
ihr Wahn, ihr Auftrag: Schreiben, grübeln, Magda (er-)finden. Und die eigenen
Schmerzen. Aufklärungswut + Einsamkeit = Einbildungswelt. Soghaft.


6 (6) Graham Moore:
Verweigerung
Aus dem Englischen von André Mumot
Eichborn, 396 Seiten, 22 Euro

Los Angeles. Vor zehn Jahren hat Maya als Jurymitglied verhindert, dass ein
Schwarzer wegen Mordes an der 15-jährigen Tochter eines Immobilien-Tycoons
verurteilt wurde. Heute ist Maya Anwältin, die alte Jury kommt wieder zusammen.
Tot in ihrem Hotel: der Widersacher von damals. Im Zweifel für die Täuschung.


7 (9) Doug Johnstone:
Der Bruch
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Polar, 230 Seiten, 20 Euro

Edinburgh. Tyler, 17, zwischen allen Stühlen. Er sorgt für Schwester Bean, 7, und
Junkie-Mum Angela, hilft Bruder Barry einbrechen. Als Psycho Barry die Frau eines
Gangsterbosses absticht, sind auch noch die Bullen hinter ihm her. Brutales Sozialdrama,
voller Bitterkeit mit einem Tröpfchen Sentimentalität.


8 (–) Orkun Ertener:
Was bisher geschah
(und was niemals geschehen darf)
Fischer Scherz,
334 Seiten, 20 Euro

Köln, Berlin, Hamburg, London. Paul erlebt seit dem Unfall bei der rituellen
Abischlacht jeden einzelnen Tag neu. Kindheitsfreund Finn fremdelt mit ihm, bis
Khalil, der dritte inmitten, per Brief mit Islamistischem oder so droht.
Max Annas: „Jung zu sein ist wie ein Thriller.“ Und dieser geht ab.


9 (–) Jan Seghers:
Der Solist
Rowohlt Hundert Augen,
236 Seiten, 20 Euro

Berlin 2017. Kurz nach dem Anschlag am Breitscheidplatz erschießt das „Kommando
Anis Amri“ einen Juden. Kaum ist Einzelgänger Neuhaus aus Frankfurt eingerückt,
werden weitere Nazis und Islamisten Verhasste liquidiert. Neuhaus enttarnt die
wahren Hintermänner, man weiß wo, mit Türkin Grabowski als Partnerin.


10 (8) Robert Galbraith:
Böses Blut
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz
Blanvalet, 1194 Seiten, 26 Euro

London, Cornwall. Strike und Robin haben einen Cold Case: Vor 40 Jahren verschwand eine Ärztin.
Ein Serienmörder ist verdächtig, jetzt will die Tochter Wahrheit. Ergebnis wie Lösungsweg können
Vorurteile Hegenden nicht gefallen. Galbraith seziert Beziehungszwänge. Gekonnt weitschweifige Bösartigkeit.



Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten  2021 sind allerdings noch nicht einmal  online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Die Jury:

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO  im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21023-unter-den-ausgeschiedenen-dammbruch-von-robert-brack
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21050-neu-auf-platz-8-nicci-french-mit-eine-bittere-wahrheit


konnten wir noch nicht besprechen, das wollten wir im Zusammenhang mit der Februarliste leisten, aber, siehe Teil 1, leider ist DIE RESIDENTUR einfach weggefallen. Deshalb wird in einem der nächsten Teile  eine Besprechung folgen!

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6