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Kategorie: Bücher
zweite schwesterSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April  2021,  Teil 7

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Alle paar Jahre kommt ein Roman in die Welt, der sozusagen am Puls der Zeit ein internationaler Bestseller wird. Meist ein Thriller. So war das mit THE GIRL ON THE TRAIN der britischen Autorin Paula Hawkins, 2015, oder der Schatten des Windes vom Spanier Carlos Ruiz Zafón, 2001, aber auch in höheren literarischen Sphären Javier Marías, ebenfalls Spanier, Mein Herz so weiß, erst recht MITTERNACHTSKINDER von Salmon Rushdie und ganz besonders HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT von Gabriel Garcia Marquez.

Nein, mit letzteren Romanen wollen wie DIE ZWEITE SCHWESTER nicht vergleichen, aber der 1975 in Hongkong geborene chinesische Autor, der heute in Taiwan lebt und mit seinem Erstling DAS AUGE VON HONGKONG schon weltweit bekannt wurde, hat den Hackerroman des Jahres geschrieben. Ob das alles technisch möglich ist, was N auf 591 Seiten als deus ex machina des Internet in Gang setzt, erforscht, verändert, ja manipuliert, beweist, wissen wir nicht. N ist also wie Gott, er kann alles und hat zudem in seinem Leben mit seinem Können schon in ganz jungen Jahren in den USA soviel Geld verdient, daß er sich in Hongkong alles leisten kann. Nur wissen wir das noch nicht. Denn an N wendet sich die erste Schwester, Nga-Yee, weil ihre kleine Schwester Siu-Man, ein Schulmädchen, sich aus dem Fenster gestürzt hat und sie sich das nicht erklären kann und hofft, daß N den Selbstmord aufklären kann. Das kann er und in einer aufregenden Mischung aus persönlicher Befragung und elektronischem Verkehr, auch Überwachung mit allen möglichen technischen Mitteln, einschließlich von Drohnen, und einer perfekten Kenntnis von WiFi u.a. gelingt dies N auch. Es stimmt, die zweite Schwester wurde in diesem gnadenlosen Internetsystem infam in den Tod getrieben. Und wir wissen auch durch wen, es sind zwei Personen, eine Mitschülerin und ein Internetjunkie.

Das ist etwa in der Mitte des Buches. Was kann jetzt noch kommen? Aha. N heißt N nach NEMESIS, der Rachegöttin in der griechischen Mythologie. So wird sie im Buch vorgestellt. Aber die Tocher der Nyx (Nacht), und als Schwan von Zeus Verführte (was übrigens zum gemeinsamen Kind HELENA führte, die, die den Trojanischen Krieg auslöste), also NEMESIS ist eigentlich die Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Das ist etwas anderes als Rache, wozu es kommt, wenn die Selbstüberschätzung eines Täters, seine Hybris, keine andere Möglichkeit läßt.

Abgesehen davon, daß ich mich das ganze Buch hindurch wunderte, wie stark die europäische humanistische Bildung in Hongkong Widerhall findet, denn auch die Römer werden Bezugspersonen, wird nun die ältere Schwester N weiter beauftragen und jetzt mit dem Ziel der Nemesis, der Rache.

Höchste Zeit über eine weitere Person zu sprechen, die als Mittäter oben genannt wurde. Aber diese Geschichte läuft auf einer ganz anderen Ebene, wir erfahren nur früh, daß eine personelle Identität vorliegt, denken wir jeden Fall, zwischen dem obigen Internetjunkie und einem Angestellten einer Firma, die von einer der großen Internetimperien unterstützt, sprich aufgekauft werden soll. Und dieser ist ein Superarschloch, weil er die Unbedarftheit seines Chefs nutzt, um sich auf gemeine Weise dem potentiellen Investor als zukünftiger Leiter des Unternehmens andient, was dieser zu goutieren scheint.

Daß N auch hier eine entscheidende Rolle spielt, kann jetzt nicht ausgeführt werden, das wäre, die Lösung vorwegzunehmen, aber wir sind Zeugen, wie diese beiden Stränge ineinandergeflochten werden, bzw. der Strang entflochten wird und die Schuldigen in voller Schärfe bestraft werden, aber eben am Leben bleiben, weshalb auch Nga-Yee, die N eigentlich beauftragt hatte, die beiden Schuldigen ebenfalls zum Selbstmord zu treiben, anderen Sinnes wird. Spannend, wie wir Zeugen jeder Gefühlsregung und der Meinungsänderung werden. Interessant daran ist, daß wir Leser dadurch die durch den Autor Geführten sind, manipuliert werden. Denn am Schluß finden wir alles richtig, wie N und die Schwester sich verhalten.

Der eigentliche Hit ist allerdings N. Über den müssen Sie selber lesen, so einen Hacker und genialen Internetler, der alles über Netze und Anbieter und wie man die Nutzer gegeneinander ausspielt, weiß, gab‘s noch nie. Und auch, wie sich Nga-Yee im Zusammenspiel mit N einerseits als harte Nuß für ihn behauptet, andererseits sich ändern kann für eine bessere Zukunft, das hat was. Natürlich ist die Geschichte sehr konstruiert, aber sie wird durch den Autor sehr natürlich in die gewünschte Richtung gelenkt, in dem die so positive Persönlichkeitsentwicklung von Nga-Yee dafür als Auslöser dient.


Ganz nebenbei erfahren wir übrigens so viel über Hongkonger Verhältnisse, über das Schulleben und die Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung, die oft 60 Prozent ihres Einkommens für eine Wohnung, eine kleine Wohnung, ausgeben müssen und deshalb es für diese Leute, wie auch die früh verwitwete Mutter der beiden Schwestern, nötig ist, einen zweiten, ja manchmal einen dritten Job anzunehmen, um zu überleben, was allerdings bei soviel Streß leicht zum Ableben führt.



DIE KRIMIBESTENLISTE IM APRIL 2021

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Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten  2021 sind allerdings noch nicht einmal  online  für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Die Jury:

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“


Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO  im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21023-unter-den-ausgeschiedenen-dammbruch-von-robert-brack

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21050-neu-auf-platz-8-nicci-french-mit-eine-bittere-wahrheit


konnten wir noch nicht besprechen, das wollten wir im Zusammenhang mit der Februarliste leisten, aber, siehe Teil 1, leider ist DIE RESIDENTUR einfach weggefallen. Deshalb wird in einem der nächsten Teile  eine Besprechung folgen!

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21748-frederick-forsyth-die-akte-odessa-piper-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21764-merle-kroegers-die-experten-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21801-die-sechs-neuen-krimis-auf-der-liste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21802-tom-hillenbrand-montecrypto-bei-kiwi-neu-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21825-simone-buchholz-mit-river-clyde-auf-platz