Sahra Wagenknech im Interview mit dem DLFEine Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknechts Buch „Selbstgerechtigkeit“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Auf der Internetseite des Campus Verlags, in dem Sahra Wagenknechts neues Buch „Die Selbstgerechten“ soeben erschienen ist, tummeln sich diverse Zumutungen.

So wird für Titel geworben, die man allenfalls als bewusste Provokationen, aber nicht als inhaltliche Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Fragen verstehen kann. So für Oliver Potts „Wissen zu Geld“. Die zentrale Botschaft des Internetunternehmers lautet: »Jeder, wirklich jeder Mensch trägt Wissen in sich, für das andere Geld zu zahlen bereit sind.« Und auch eine weitere Neuerscheinung scheint in ein verlegerisches Konzept zu passen, das Inhalte bewusst vernachlässigt. Beispielsweise die Veröffentlichung der Unternehmerin Susanne Westphal (Geschäftsführerin des „Instituts für Arbeitslust“) mit dem Titel „Überzeugungstäterin. Hart in der Sache, charmant in der Art. So setzen Sie sich durch!“ Die Autorin bekräftigt ihr Anliegen mit der Aussage „Jede Frau muss ihren Weg und ihre Strategie finden, die zu ihr passt.“ Um sich in dieser erlauchten Gesellschaft überflüssiger Ratgeber zu behaupten, bedarf es in der Tat einer gehörigen Portion Selbstgerechtigkeit. Also eines intellektuellen Defizits, das man bei der linken Sahra Wagenknecht zunächst nicht vermuten würde.

Möglicherweise sind das Zufälle. Allerdings fällt es mir bei Politikern schwer, an solche Kausalitäten zu glauben. Eher könnte diese publizistische Begleitmusik ein Indiz dafür sein, dass Sahra Wagenknechts Manuskript so unausgegoren ist, dass Verlage, deren Programme für ernsthaften politischen Diskurs stehen, es nicht haben wollten.
Während meiner langjährigen Verlagstätigkeit habe ich die typischen Zielkonflikte der Programmverantwortlichen regelmäßig selbst durchstehen müssen. Diese kumulierten wiederholt in der Frage: Wie mache ich einem Autor oder einer Autorin klar, dass er bzw. sie die einstmals bewiesene fachliche Kompetenz mit dem neuen Text so sehr infrage stellt, dass ich ablehnen muss. Vielfach konnte ich mich noch nicht einmal zur Empfehlung durchringen, die Arbeit einem Verlag, der andere Schwerpunkte setzte, anzubieten.

Und noch ein anderes Ereignis passt nicht zu den Ansprüchen der einstigen Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag. Denn die LINKEN in NRW wählten sie erneut zur Spitzenkandidatin für die anstehende Bundestagswahl. Dieser Landesverband steht für vieles, vor allem für Fraktionsbildung, jedoch nicht für den von Wagenknecht postulierten Gemeinsinn und Zusammenhalt. Er macht seit zehn Jahren alles falsch, was man nur falsch machen kann.

Und das in einem Bundesland, das traditionell relativ offen ist für politische Programme links von der SPD. Dort haben FDJ und KPD auch nach den Verbotsurteilen (1954 bzw. 1956) im Hintergrund gewirkt und Einfluss ausgeübt. Vor allem auf die Gewerkschaften, aber auch auf Kampagnen wie „Kampf dem Atomtod“ oder die Ostermarschbewegung. Es gab linke Schriftstellervereinigungen wie die „Dortmunder Gruppe 61“ (Angelika Mechtel, Max von der Grün, Bruno Gluchowski, Wolfgang Körner, Josef Reding, Peter Paul Zahl) oder den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Ebenso den „PLÄNE“-Schallplattenverlag, der einen namhaften Teil der sozialistischen deutschen und internationalen Singer und Songwriter auflegte (Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch, Süverkrüp, Hein & Oss Kröher, Hannes Wader, Zupfgeigenhansl). Selbst nach der Gründung der „Sozialistischen deutschen Arbeiter-Jugend SDAJ“ und der „Deutschen Kommunistischen Partei DKP“ 1968 gab es noch genügend Freiräume für Aktivisten, die bewusst auf Distanz zu den „Freunden“ in der DDR achteten. Die kleine Bühne im Keller des Bochumer Schauspielhauses („Theater Unten“ bzw. „Theater unter Tage“) war jahrelang Experimentierraum für linke Theaterkunst. Sozialwissenschaftler wie Arno Klönne oder Christoph Butterwegge haben in kritischer Sympathie für SPD und LINKE den Strukturwandel des Ruhrgebiets als exemplarischen Beleg für ihre Theorien verwendet. Nur bei den NRW-LINKEN ist das alles nicht angekommen.

Stattdessen Gruppenbildungen wie die „Antikapitalistische Linke AKL“ oder die „Sozialistische Linke SL“. Die AKL forderte unlängst die Vergesellschaftung der Kultur, so als sei diese ein kapitalistischer Produktionsbetrieb, in dem „Kulturschaffende“ bei Niedriglöhnen Lobeshymnen auf das System verfassen müssten. Dass ein solches Denken bzw. Nichtdenken nahtlos in die Sprache des Dritten Reiches passt, das „Kulturschaffende“ als „Arbeiter der Stirn“ den „Arbeitern der Faust“ an die Seite stellte, war und ist den Funktionären der NRW-LINKEN anscheinend nicht bewusst. Friedrich Engels‘ These, dass das kapitalistische System u.a. geprägt sei durch die Bewusstlosigkeit der Mehrheit der an ihm Beteiligten, scheint auf diesen linken Landesverband ebenfalls zuzutreffen, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Und allem Anschein nach auf dessen alte und neue Galionsfigur Sahra Wagenknecht. Vergeben und vergessen scheint auch deren Niederlage mit der Initiative „Aufstehen“ von 2018, die dilettantisch vorbereitet und unprofessionell durchgeführt worden war.

Noch habe ich die Lektüre von „Die Selbstgerechten“ nicht abgeschlossen. Aber bereits auf den ersten 20 Seiten fielen mir logische Brüche in der Argumentation und schlichte Unkenntnis auf. Beides lässt mich befürchten, dass auf den instabilen Trümmern fehlenden Sachverstands ein politisches Programm errichtet werden soll, das sich als ähnlich morbide erweisen wird wie die nicht zu Ende gedachten Prämissen, auf denen es gründet.

So wird im Vorwort ein unzulässiger Vergleich gezogen mit der Situation in den USA während und zum Ende der Trump-Ära und der Kontroverse um Corona in Deutschland. Ging und geht es in Amerika um den Hass reaktionärer und rassistischer Gruppen auf Demokraten im Allgemeinen und im Speziellen auf Liberale und vermeintliche Sozialisten, verläuft der Graben in Deutschland zwischen sich bewusst schlecht Informierenden und völkischen Ideologen auf der einen Seite und verantwortungsvollen und achtsamen Bürgern auf der anderen. Trotzdem schreibt Sahra Wagenknecht: „Wer den Sinn und Nutzen der Schließung von Kitas und Schulen, von Gaststätten, Geschäften und vielen anderen Gewerben auch nur teilweise in Zweifel zog, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihm Menschenleben egal wären. Wer gleichwohl anerkannte, dass Covid-19 ein gefährliches Virus ist, wurde ähnlich aggressiv von denen attackiert, die in allem nur Panikmache sahen. Respekt vor dem Andersdenkenden? Ein sachliches Abwägen von Argumenten? Keine Chance. Statt miteinander zu reden, schrie man sich nieder.“

Einspruch, Frau Wagenknecht. Sie betreiben die Heiligsprechung der Dummheit, die auch als Populismus bekannt ist. Denn Covid-19 bedarf zu seiner Verbreitung eines Wirts, nämlich des Menschen. Also ist die konsequente Kontaktbeschränkung das Mittel der Wahl. Jedenfalls so lange, bis zwei Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft sind. Und möglicherweise werden auch dann eine Zeit lang Masken und Abstand in bestimmten Konstellationen nötig sein. Dagegen lässt sich nicht logisch argumentieren. Denn: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus).

Doch das ficht Frau Wagenknecht nicht an. Sie schreibt ohne Belege und bar jeglicher Logik weiter:

„Schon frühere Kontroversen wurden ähnlich ausgetragen. Es wurde moralisiert statt argumentiert. Geballte Emotionen ersetzten Inhalte und Begründungen.“
Erneut verwechselt sie in voller Absicht logische Ebenen. Denn Moral und Argument sind keine Gegensätze. Das Gegenteil von Moral ist Moralin, also die heuchlerische Entrüstung ohne jede ethische Relevanz. Und Inhalte kann man durchaus emotional begründen, also mit innerer Bewegung und Leidenschaft. Begründungen verlieren dadurch nichts von ihrer Kraft, vorausgesetzt, sie lassen sich belegen.

Und dann gelangt sie zu dem Thema, das sie in nicht differenzierender Weise okkupiert hat:

„Die erste Debatte, bei der das offensichtlich wurde, war die über Zuwanderung und Flüchtlingspolitik, ein Thema, das nach der deutschen Grenzöffnung im Herbst 2015 fast drei Jahre lang alle anderen überlagerte. Damals hieß das Regierungsnarrativ nicht Lockdown, sondern Willkommenskultur, und Widerspruch war mindestens so unerwünscht wie zu Corona-Zeiten. Während der politische Mainstream seinerzeit jeden, der Besorgnis äußerte oder auf die Probleme unkontrollierter Zuwanderung hinwies, als Rassisten ächtete, formierte sich auf der Gegenseite des politischen Spektrums eine Bewegung, die den Untergang des Abendlands bevorstehen sah. Tenor und Tonfall waren ähnlich unversöhnlich wie in der Diskussion über eine sinnvolle Corona-Politik.“

Wer so etwas schreibt, darf sich nicht darüber wundern, dass die Partei, der er oder sie (noch) angehört, immer weniger positive Resonanz bei Nachdenklichen und Intellektuellen findet. Der Herbst 2015 war nicht, wie beleglos behauptet, die Stunde eines Regierungsnarrativs namens Willkommenskultur, sondern es stand die Einlösung von Artikel 16a des Grundgesetzes („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) an sowie die Umsetzung der „Genfer Flüchtlingskonvention“. Dies wurde in weiten Teilen der Bevölkerung auch so verstanden, was zu einer breiten Willkommenskultur führte. Es fand auch keine unkontrollierte Zuwanderung statt. Die vielerorts entstandenen Flüchtlingsunterkünfte waren das exakte Gegenteil von offenen Eingangstoren für jedermann. Die von vornherein zu erwartenden Probleme mit den Schutzsuchenden ergaben sich aus deren Sozialisation, insbesondere aus ihrem Bildungs-, Familien-, Staats- und Religionsverständnis. Hier haben die verantwortlichen Stellen nicht konsequent reagiert, weder bei der Durchsetzung von Verboten noch beim Angebot von Integrationskursen. Ähnlich hilflos und inkonsequent handeln sie heute beim Umgang mit verfassungsfeindlichen Querulanten der Gattung „Querdenker“.

Doch ich will meine Kritik an Sahra Wagenknechts Politikverständnis noch an einem weiteren typischen Punkt deutlich machen. Sie schreibt in ihrem Buch:

„Nicht viel sachlicher verlief die Klimadebatte, die das Jahr 2019 dominierte. Nun ging es nicht mehr um den Untergang des Abendlandes, sondern gleich um den der ganzen Menschheit. Klimafreunde, die Panik für eine angemessene Reaktion hielten, kämpften gegen echte und vermeintliche Klimaleugner. Wer weiterhin mit seinem Diesel unterwegs war, sein Schnitzel im Discounter kaufte oder sich noch höhere Strom- und Spritpreise nicht leisten konnte, durfte nicht mit Gnade rechnen. Die mittlerweile als größte Oppositionspartei im Bundestag vertretene AfD feuerte im Gegenzug Salven gegen die die »linksgrün-versiffte Meinungsdiktatur«.
Es scheint, dass unsere Gesellschaft verlernt hat, ohne Aggression und mit einem Mindestmaß an Anstand und Respekt über ihre Probleme zu diskutieren. An die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten. Das ist beängstigend.“

Und erneut muss ich deutlich widersprechen.

Die Klimaveränderung ist – ähnlich wie meisten sozialen Antagonismen – ein Ergebnis der kapitalistischen und neoliberalen Wirtschaftsordnung, welche die Folgen ihres Handelns einerseits negiert und sie andererseits denen aufbürdet, die ohnehin kaum Vorteile daraus ziehen können. Folglich kann es keine Versöhnung mit dem Unversöhnbaren geben, weil das auf die Aufhebung des Gegensatzes von Gut und Böse hinausliefe. Es ist bemerkenswert, dass Sahra Wagenknecht ziemlich offen gegen die kritische Intelligenz zu Felde zieht. Man kann darüber spekulieren, ob das eine zufällige oder bewusste Übereinstimmung mit den Aasgeiern der AfD ist. Mit diesen kann man nicht sprechen, schon gar nicht diskutieren, weil man sonst das Unsägliche als gleichberechtigt akzeptieren müsste.

Mir fällt noch einmal der dümmliche Satz von Oliver Pott ein, Sahra Wagenknechts Nachbarn im Campus-Verlag: „Jeder, wirklich jeder Mensch trägt Wissen in sich, für das andere Geld zu zahlen bereit sind.“ Eine unbewiesene Behauptung. Belegbar ist jedoch, dass es Wissen gibt, das im Wesentlichen aus Nichtwissen besteht. Und dafür ist jeder Cent, den man bezahlt, zu viel.


Foto:
Sahra Wagenknecht im Interview mit dem DLF
© Deutschlandfunk.de

Info:
Text © Klaus Philipp Mertens (Mertens & Medien, Non-Profit-Publikationen), Frankfurt am Main 2021