60 KiloNACHTRAG: OPEN BOOKS . Das städtische Lesefest zur Frankfurter Buchmesse 13. - 17. Oktober, Teil 10 am 14.10.

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Island hat Konjunktur! In der Literatur nicht erst seitdem auftritt als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse „Sagenhaftes Island“, was schon 2010 war, aber in Erinnerung ist als sei es gestern gewesen. Island hat auch für Filmemacher Konjunktur, entweder von isländischen selber oder von französischen u.a. Regisseuren, die sich in Island eine andere Innerlichkeit versprechen und finden. Nicht zu vergessen übrigens, daß in letzter zeit die finnischen Krimis und auch hier müssen wir sagen, die in Island spielenden Krimis eine große Leserschaft anzieht.

Für Kenner ist auch Helgason – aha, ohne nordische Sprachkenntnisse würde unsereiner das immer als Sohn einer Helga identifizieren – Hallgrimur ein bekannter Mann. Sicher wäre er sonst auch gar nicht gleich auf der Begleitveranstaltung zur Frankfurter Buchmesse aufgetreten. Daß er seine Fans hat, konnte man an diesem Nachmittag konstatieren, man konnte es aber auch verstehen! Er ist einer der doppelten Künstler. Studiert hat er Kunst und Kunstgewerbe und ist ein Maler, der schreibt. HELLA war sein erster Roman 1990 und mit dem Roman 101 Reykjavík, der 2000 unter der Regie von Baltasar Kormákur verfilmt wurde, feierte er seinen großen Erfolg. In Island ein Kultroman. Aber auch der neue, der anders als die leicht satirischen Romane, einen ernsten historischen Hintergrund hat, hat ihm gleich den isländischen Buchpreis eingebracht! Und viele Preise für seinen Kunstausstellungen, also ein doppelt erfolgreicher Mann. Und eben auch einer, der uns Lesern den Eindruck macht, er würde mit dem Pinsel etwas vor uns ausbreiten, was nicht nur Buchstaben sind, sondern aus Farbe und Textur besteht.

Wir sind in Segulfjördur. Das ist ein isländisches Dorf, ja fiktiv, aber doch so, als ob es auch in Wirklichkeit vorhanden wäre, so lebens- und geschichtsnah ist es, was hier ab dem Jahr 1900 erzählt wird. . Thomas Böhm hat die Moderation übernommen, die sich von alleine moderiert, hat man den Eindruck. Wir sind dabei bei der Entstehung Islands, hören wir. Nicht der geologischen, sondern der menschlichen. Gestur ist die Hauptperson, an der sich alles entwickelt. Das fiktive Dorf liegt an einem fiktiven nordisländischen Fjord, wobei für die, die diese raue schöne Gegend nicht kennen, gesagt werden muß, daß dort jeder Fjord für den Fremden gleich aussieht, für den Kenner nicht.

Bauer Eilífur ist unterwegs, Weizen für seine Familie für den Winter zu besorgen. Doch er gerät in ein übles Unwetter und findet bei der Rückkehr seine Hütte unter Schnee begraben und in ihr seine Frau und Tochter tot. Nur der zweijährige Gestur hat überlebt und dies nur, weil er an den Zitzen einer Kuh gesaugt hat. Das bekommen wir hautnah mit, denn Jochen Nix, in Frankfurt ein bewährter Vorleser, liest diese Passagen, die unter die Haut gehen. Dabei ist das Schreckliche immer mit dem Komischen gepaart. Wir lachen, auch wenn wir weinen könnten. Vom „tröstenden und brachialen Humor“ ist die Rede!

So schwanken wir selbst ein wenig zwischen der Nacherzählung des Romans und des intellektuellen Feuerwerks auf der Bühne, wo es um die Island Sage, die Mönche im 13. Jahrhundert, um das lockere Verhältnis zum christlichen Glauben geht, um Norwegen und immer wieder die Kirchen, die übrigens lange vom Bistum Bremen betraut wurden. Von der Edda hören wir auch. Aber auch von Quentin Tarantino und von Ohrfeigen, insbesondere der dritten Ohrfeige, die aber nichts mit Tarantino zu tun hat. Aber Helgason

In meinen Aufzeichnungen stehen lauter Seitenzahlen, auf die der Autor und der Moderator Bezug nehmen, aber das würde ein eigenes Buch ergeben, würden wir hier weitermachen. Soll doch lieber die Geschichte weitergehen: Denn der überlebende Gestur ist ein uneheliches Kind, der keine feste Familienkonstellation kennen lernen wird, sondern von einem Ziehvater zum nächsten weitergereicht wird. Leben können alle nur vom Fischfang und was der Hering für das Überleben der Bevölkerung bedeutet, das konnte man jüngst auch in dem anrührenden Kriminalroman des Schweizers Joachim B. Schmidt – der aber in Island lebt! - über KALMANN lesen, der mit seinem Gammelhai Furore macht, in diesem kleinen Dorf, was auch im Nordosten Islands spielt und die Bedeutung des Fischfangs für die Vergangenheit aufzeigt und das Drama der Gegenwart, wo der Fischfang nichts mehr bringt und die Gegenden veröden, weil die Leute kein Auskommen mehr haben, sterben oder wegziehen.

Tatsächlich sind es die gleich Vorgänge, erst ist der Fischfang der Hit und bringt Reichtum und die moderne Welt an die Küsten Islands, dann sieht es düster aus. Doch vor dem Weinen und dem Drama bewahrt uns erneut die Schreibweise des Autors. So gekonnt Skurrilität von Personen und Vorgängen mit traurigen Tatsachen in Eins zu bringen, ist schon eine Kunst und erwärmt das Herz.

Aber im Ernst, wir wissen beim und nach dem Lesen schon, daß dies ein hartes Leben war, das Isländer wie Gestur bewältigen mußten – oder zugrunde gingen. Helgason bringt uns das nahe, in dem er in vielen Kleinigkeiten ein Panorama zeichnet, das wir intellektuelle und emotional verstehen. Und zum Sonnenschein, zu den 60 Kilogramm: "Es gab so viele Heringe, dass eine Goldgräberstimmung herrschte. In nur einem Sommer konnte man zum Millionär werden. Siglufjörður wurde 'El Dorado der Fischerei' genannt. Es war verrückt."

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Info:
Das Lesefest OPEN BOOKS findet unter Einhaltung der Gesundheits- und Hygieneauflagen statt. Um sicher zu gehen, dass die Platzkapazitäten gewahrt bleiben und im Zweifelsfall die Nachverfolgung der Daten möglich ist, müssen die Besucherinnen und Besucher sich in diesem Jahr Tickets gegen eine Servicegebühr in Höhe von 1,50 Euro vorab buchen. Der Buchung ist je nach Verfügbarkeit bis 12 Uhr am Veranstaltungstag möglich. Im Fall von OPEN BOOKS Kids trägt der Veranstalter diese Umlage. Der Ticketanbieter ist AD Ticket.

Das gesamte Programm und die Hinweise auf Orte, Zeiten und Tickets finden sich auf www.openbooks-frankfurt.de. Dort findet sich auch eine Mediathek. Gestreamt werden die Lesungen im Haus am Dom, in der Evangelischen Akademie Frankfurt sowie die Eröffnung mit dem Blauen Sofa und die Lesung mit Katja Ebstein im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Das war der erste Artikel: https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20054-open-books_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20055-von-13-bis-18-oktober-steht-frankfurt-im-zeichen-des-buches_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20056-zahlen-verlage-orte_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20136-nell-zink-60-kilo-sonnenschein-und-die-krimis-am-mittwoch
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20161-christian-berkel-und-kathrin-roeggla
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20177-susan-sontags-biographie
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20178-kristof-magnussons-vergnuegliche-kunstsatire-ein-mann-der-kunst
Das der damals achte Artikel zu den Veranstaltungen und gleichzeitig der sechste Artikel zum Schweizer Buchpreis, weil die hier Nominierten in Frankfurt lasen:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20421-tom-kummer-und-karl-ruehmann
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22243-das-hohe-lied-von-nell-zink