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Kategorie: Bücher
adaNACHTRAG: OPEN BOOKS . Das städtische Lesefest zur Frankfurter Buchmesse 13. - 17. Oktober, Teil 12 am 15.10.

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Heute ist der Veranstaltungsort die Katharinenkirche. Sie liegt direkt im Stadtzentrum an der Hauptwache und man glaubt es immer kaum, aber schon Goethe schreibt über sie. Aber, was heißt hier schon. Die Kirche selbst ist ein Barockbau. Gewesen muß man sagen, denn sie wurde im Zweiten Weltkrieg massiv zerstört, aber bald aufgebaut. Sie war so etwas wie die Privatkirche der echten Frankfurter. Die Eltern von Goethe wurden hier schon getraut, seine Taufe wird der Kirche zugeschrieben, belegt ist auf jeden Fall seine Konfirmation 1763, aber auch der Lokalpatriot Friedrich Stoltze, den die Frankfurter viel besser kannten und auch tiefer mochten, wurde hier getauft, konfirmiert und verheiratet.

Heute ist die Kirche für ihre Musikereignisse bekannt, denn sie hat einen enormen Hall und alles klingt voluminös. Wenn man richtig sitzt. Denn, natürlich war das keine Absicht, mir wurde beim Weitauseinandersitzen ein Platz vorne rechts bestimmt, von dem im Nachhinein der Pfarrer der Kirche mir sage, daß sie der einzige Platz, auf dem man nichts höre. So war es nämlich. Meine erst schüchternen, dann sicher störenden lauteren Rufe: „Bitte lauter sprechen“, brachten keine Besserung. Wie gut, daß ich Christian Berkels Buch ADA aus dem Ullstein Verlag vorher gelesen hatte, noch besser, daß ich den Vorgänger DER APFELBAUM kannte und zudem die von ihm selbst gelesenen CDs von HörbuchHamburg angehört hatte. Deshalb „wie gut!“, weil die Geschichte sehr viele Personen umfaßt, verschiedene Zeitebene und Handlungsstränge.

Natürlich ist es gut, die Geschichte seiner Familie, hier der mütterlichen mit jüdischen Wurzeln zu kennen. Und ursprünglich sollte auch ADA Teil des einen Buches sein, das er vorhatte. Aber er merkte beim Schreiben, daß er nicht wie gewollt bis zum Jahr 1989 kommt, weshalb er den APFELBAUM 1954 enden läßt, den Zeitpunkt als Ada mit ihrer Mutter Sala aus dem Exil nach Westdeutschland zurückkehrt.

Sie bekommt also den Wiederaufbau Deutschlands, nein, man muß immer sagen, der BRD, mit; das Wirtschaftswunder und die Verdrängung des Gestern. Faschismus, Nationalsozialismus, das alles hat es nie gegeben. Dafür herrscht unerträglichen Schweigen, unerträglich für die heranwachsende Generation, nie für alle, aber für die sensiblen und verantwortungsvollen. ADA ist so eine, die gegen das Geschichtsvergessen und den Mehltau anlebt, was sich dann in der Studentenrevolution für die intellektuelle Jugend entlädt.

Der Autor spricht über seinen, gerade am 12. Oktober herausgekommenen Roman, mit archäologischen Begriffen. Oder besser medizinischen, was hier aber in Eins geht: Er habe in die „ Herzen eindringen wollen und die Schädeldecke offen gelegt, um in das Land schauen zu können, diesen Nachkriegsdeutschland mit Verlust, Einsamkeit, Liebe, Sehnsucht.“ Ja, es sei ein graues Land gewesen,d dieses Nachkriegsdeutschland, sehr grau. Er habe das 1955 als Kind in Gesprächen mitbekommen, wie traumatisiert die Erwachsenengeneration mit ihrer Kriegs- und Exilerfahrung war, in dieser Adenauerzeit, an deren Stimmung er sich genau erinnere.

Es werden kluge Fragen gestellt, wie die, ob man beim schreiben in Abgründe blicke, was Berkel mit einem schlichten ‚Ja, beantwortet. Und er beantwortet auch die Fragen nach dem Unterschied von Schauspielern und Schreiben, die ja durch das Hineinversetzen in Personen durchaus gleich liegen. Bei Spiel komme der Körper hinzu und die anderen, die mitspielen, a er beim sChreiben sei man alleine. Das sei der Hauptunterschied, beschied er. Und welche Gedanken und Gefühle ihn durchpulsen, wenn er beim Schreiben Körper, Figuren, Köpfe erschafft, die er mit Leben ausstattet, wie er dadurch eine visuelle Wirklichkeit erschafft.

Einen Hauptunterschied zwischen beiden Bänden – übrigens wird es auf eine Trilogie hinauslaufen - sieht der Autor in der Erzählperspektive. DER APFELBAUM geht der Geschichte seiner Familie nach, wo in der Erzählform über das Exil berichtet wird, was es mit den Personen anstellt, wie der auktoriale Erzähler weiß. Aber ADA erzählt selbst in der Ichform. Das war für ihn neu, noch dazu als Frau, aber er wußte, daß er damit seiner Hauptfigur näher komme. In drei Passagen liest dann der Autor aus seinem neuen Buch, das übrigens am Ausgang zu erwerben ist, was viele tun. Ausverkauft war diese Veranstaltung wie alle anderen sowieso. Ein Zeichen, wie ausgehungert schon im Oktober die Buchliebhaber waren. Wie erst heute!

Es stimmt, worauf Berkel verweist, man muß den Vorgängerband gar nicht gelesen haben, um ADA zu verstehen. Erneut geht es um die psychosoziale Situation der Jugend dieser Zeit, die übrigens vor seiner eigenen liegt. Warum über das Tochter-Vater-Verhältnis so wenig Aussagen kommen, sei typisch für diese Zeit der abwesenden Väter. Die einen waren nicht wiedergekommen, die anderen mit dem Wiederaufbau des Landes beschäftigt, waren schweigend und unzugänglich.

Gehen wir noch kurz auf Ada ein. Sie ist die Schwester, die sich Berkel erfunden hatte. Und er packt in ihr Leben all das, was er von den Sechzigern als Aufbegehren kennt: die Rolling Stones, den Auftritt in der Berliner Waldbühne, ein starkes Stück!, , die Drogen und Adas Absturz, der sie zwingt, sich ihrem Leben in einer Analyse zu stellen.

Übrigens, das sollte man noch einmal klarstellen: Christian Berkel liefert keinen ‚leichten‘ Generationenroman, er schreibt echte Literatur, die es an sich hat, daß man nichts runterliest, sondern sich mit Personen und Handlungen beim Lesen selbst auseinandersetzt.

Gut so, die Anwesenden sind auf den dritten Teil gespannt und verabschieden Christian Berkel mit besonders großem Applaus!

Foto:
Cover

Info:
Das Lesefest OPEN BOOKS findet unter Einhaltung der Gesundheits- und Hygieneauflagen statt. Um sicher zu gehen, dass die Platzkapazitäten gewahrt bleiben und im Zweifelsfall die Nachverfolgung der Daten möglich ist, müssen die Besucherinnen und Besucher sich in diesem Jahr Tickets gegen eine Servicegebühr in Höhe von 1,50 Euro vorab buchen. Der Buchung ist je nach Verfügbarkeit bis 12 Uhr am Veranstaltungstag möglich. Im Fall von OPEN BOOKS Kids trägt der Veranstalter diese Umlage. Der Ticketanbieter ist AD Ticket.

Das gesamte Programm und die Hinweise auf Orte, Zeiten und Tickets finden sich auf www.openbooks-frankfurt.de. Dort findet sich auch eine Mediathek. Gestreamt werden die Lesungen im Haus am Dom, in der Evangelischen Akademie Frankfurt sowie die Eröffnung mit dem Blauen Sofa und die Lesung mit Katja Ebstein im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Das war der erste Artikel: https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20054-open-books_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20055-von-13-bis-18-oktober-steht-frankfurt-im-zeichen-des-buches_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20056-zahlen-verlage-orte_544
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20136-nell-zink-60-kilo-sonnenschein-und-die-krimis-am-mittwoch
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20161-christian-berkel-und-kathrin-roeggla
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20177-susan-sontags-biographie
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20178-kristof-magnussons-vergnuegliche-kunstsatire-ein-mann-der-kunst
Das der damals achte Artikel zu den Veranstaltungen und gleichzeitig der sechste Artikel zum Schweizer Buchpreis, weil die hier Nominierten in Frankfurt lasen:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20421-tom-kummer-und-karl-ruehmann
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22243-das-hohe-lied-von-nell-zink
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22252-hallgrimur-helgasons-60-kilo-sonnenschein
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22253-die-nordseefalle-die-maechtigen-das-spiel