Bildschirmfoto 2021 09 17 um 01.37.12Serie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das macht mich fertig. Schreiben jetzt alle in der Ich-Perspektive, die immer nahelegt, als Leserin das Erzähl-Ich mit dem Autor, der Autorin gleichzusetzen, zu verwechseln. Aber wie sollte man auch nicht, wenn es im Buch der türkischstämmigen Autorin aus Baden-Württemberg, die schon länger in Berlin lebt, um die Heimfahrt einer in Berlin Lebenden geht, eine Bahnfahrt in die Heimat nach Ba-Wü, wo der Vater durch die Wellnesswoche seiner Frau mit ihren Freundinnen alleine ist, was er nicht gewohnt ist und sich die Tochter nun ein paar Tage um ihn kümmern will.

Wir sind keine Detektive und nehmen die äußerlichen Ähnlichkeiten im Lebenslauf der Autorin und der Erzählerin nun einfach nur zur Kenntnis und beschäftigen uns mit dem, was uns beim Lesen auffällt: Sprachlosigkeit. Kein Miteinanderreden, kein Gespräch zwischen Vater und Tochter, was aber nur der Tochter unangenehm zu sein scheint. Aufgefallen ist das hörbare Schweigen zwischen Vater und Tochter dieser schon lange, aber uns fällt auf, wie die Mittdreißigerin, die in Berlin im Rundfunk arbeitet, wo doch, da aufs Wort beschränkt, das Reden das A und O ist, wie also die junge Frau zu Hause zurückfällt in das Schweigeloch, das sie mit ihrem Vater verbindet, ja schweigend zusammenschweißt.

Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, ihn diesmal zum Reden zu bringen, besser: mit ihm zu reden, einen Dialog zu führen, neu für beide, aber doch nötig, nach so vielen Jahren des Schweigens, das eben auch ein Verschweigen ist, nämlich über sich selbst, über die eigenen Befindlichkeiten, einfach über alles....Die Tochter beginnt den Roman so: „Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen? Als ich zwölf wurde oder dreizehn? Oder erst später, als wir schon übers Ausgehen stritten und übers Abendswegbleiben?“

Aha, es gab also eine freundliche Situation zwischen beiden in der Kindheit. Immer wieder geht im Folgenden die Ich-Erzählerin Ipek darauf ein, wie vertraut ihr der Vater, eben auch körperlich, war und wie schlagartig alles anders wurde, als sie zu einem noch ganz jungen Mädchen wurde, in einem Alter, wo man in der Türkei, wo die Eltern herkommen, schon verheiratet wird, zum Beispiel.

Sie rationalisiert, diese Ipek, wenn sie als unangenehmes Gegenbeispiel Onkel Orhan anführt, der mit seiner Tochter Meray ungehindert weiter einen engen Kontakt pflegt, auch körperlich: „...,er küßte sie und sie küßte ihn. Da war Meray schon eine junge Frau und eigentlich schon viel zu groß für solche Dinge.“ Wieso denn das, solche Dinge? Das ist doch ganz natürlich und wird erst zum Problem, wenn so g‘schamig darüber geschrieben wird. „Du und ich sahen den beiden voll Unbehagen zu und genierten uns.“ Ayip!

Es gibt im schmalen 100 Seiten Roman in DIN A 5 auch die Beschreibung vieler Szenen, die alle kennen, die als Erwachsene in das noch immer vorhandene Familienheim zurückkehren, ihr Kinderzimmer wiedersehen mit all den Freuden, auch dem Leid, das die alten Tapeten, die Kinderbücher im Regal, die Plakate an den Wänden in einem hervorrufen.Aber speziell dann über die Mutter: „Sie spricht oft für dich, sie füllt mit ihrer Stimme den Raum, aus dem du dich zurückziehst. Kommt Dir das gelegen? Mir ja, mit ihr spreche ich wie von selbst, gedankenlos. Drum frag ich, wenn ich dich fragen will, sie spricht für dich, und sie spricht über dich, als wärest du erst sieben, schüchtern, scheu und unbeholfen.In der Schüchternheit, da treffen wir uns, du und ich, sie ist unser gemeinsamer Ort. In unserer Unbeholfenheit sind wir uns nah, hier kennen wir uns aus, und vielleicht fühle wir uns hier wohl, in der Stille.

Ich fühle mich selbst so, als wäre ich sieben. Nicht nur in diesem Moment mit den Märchen auf dem Schoß, immer, wenn ich hier bin. Für mich sind wir aus dem Dreieck Mutter, Vater, Kind nie herausgekommen, sind, wenn wir beisammen sind, nicht drei Erwachsene an einem Tisch. Wenn wir uns sehen, ganz egal, ob Mama dabei ist oder nicht, stellt sich das eigenartige Gefühl ein, das es für mich zwischen Eltern und Kindern gibt: Ihr seid groß und ich bin klein. Du bist der Papa und ich das Kind.“

Hat das nun mit türkischer Erziehung, türkischem Hintergrund zu tun? Das kann ich nicht beurteilen, kenne auf jeden Fall dieses Zurückfallen in alte Rollen nicht, sondern eher, daß mit zunehmendem Alter der eigenen Eltern, diese eher zu Kindern werden, bzw. ich, das Kind, zu deren Eltern. Aber das ist dann doch sehr viel später. Hoffen wir für Ipek, daß sie erwachsen wird und verstehen lernt, daß sie nicht nur ein Vater-, sondern auch ein Mutterproblem hat.

Foto:
Cover

Info:
Dilek Güngör, Vater und ich, Verbrecher, Juli 2021
ISBN 978 3 95732 492 4

Leider gib's kein Lesebändchen, was ich diesmal nicht so vermisse, weil es sich um eine dünnes Buch handelt.