eurokrachtSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 8

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das auch noch. Wo ich doch den Hype um den Bestseller EUROTRASH durch Nichtlesen umschiffte, und der Autor Christian Kracht seit FASERLAND, was ich damals furchtbar fand, - wäre übrigens interessant, den Roman von 1995 heute wieder zu lesen -  also seit damals für mich uninteressant war. Und nun ist EUROTRASH gewählt in die Zwanzigerliste. Schlimm genug. Schlimmer ist, daß mir das Buch, gut, ja richtig gut gefällt!

Erst fällt mir auf, daß die Widmung seiner Frau, seiner Tochter, seiner Schwester und seiner Mutter gilt. Viele Frauen. Nichts dagegen. Und was ist mit den Vätern und Großvätern? Das wissen wir und erfahren es hier im Roman erneut: vertierte Nazis und schlimme Kerle. Gleich beide Großväter! Der eine hat überall geheime Sadomaso-Utensilien, die nach seinem Tode in Sylt aufgefundenen, befanden sich im verriegelten Gästezimmerschrank . Widerlich, diese Typen. Kein Wunder, daß der Icherzähler, aber auch der Autor Kracht ein Leben lang gegen sie ankämpfen muß und auch am Vater Christian keinen Halt hat, der ein manipulierender Selbst- und Geldsüchtiger ist, ein Aufschneider und Hochstapler.

Dann ein Motto, das wie erfunden klingt: „Wenn Du Deutschland liebst, dann besuche es lieber nicht.“ Der verehrte Jorge Luis Borges soll das gesagt haben? Kann gut sein, denn er war, wie er selbst sagt, verliebt in die deutsche Sprache. Dazu muß man nicht Deutschland besuchen. Auf jeden Fall kenne ich von ihm ....

Voll von Vergil sind meine Nächte, hab ich
einmal gesagt; ich hätt auch sagen können,
voll Hölderlin und Angelus Silesius.
Heine gab mir die hohen Nachtigallen,
Goethe gab mir das Glück von später Liebe,
die nachsichtig und dabei käuflich ist;
Keller die Rose,....

Ich kann mich von der Widmung schwer lösen, muß mich an meine Borgesbegeisterung von vor vielen Jahren erinnern und daß er ja mit 86 Jahren 1986 in Genf starb, eine Stadt, die Borges sowieso gut bekannt war, weil er schon 1914 mit den Eltern in die Schweiz gekommen war und sieben Jahre, also den ganzen Ersten Weltkrieg über blieb. Was will uns Kracht mit diesem Zitat sagen? Daß man, die deutsche Sprache liebend, besser die Schweiz besucht? Sicher nicht. Die erste Verwirrung in meinem Hirn ist Kracht auf jeden Fall gelungen.

Die zweite kommt erst auf Seite 18. Bis dahin weiß ich, daß der Icherzähler, der auch Christian heißt und wie der Autor eine reiche Mutter in der Schweiz hat, auf ein paar Tage nach Zürich muß, ins reiche, aufdringlich reiche (meine Worte) Zürich, weil seine Mutter ihn dringend sprechen will. Ja, Zürich, darauf geht der Icherzähler ein, der sich auch zur Autorenschaft von FASERLAND bekennt, denn dessen Reise endete in Zürich, wo die neue Reise jetzt, 25 Jahre später beginnt. Aber von einer Reise wissen wir noch nichts. Erst einmal schreibt er über den Kauf eines handgestrickten Wollpullovers aus einer Schweizer Kommune, feilgeboten an einem Stand auf der Bahnhofstraße, die ja piekfein und teuer ist. Der Schreiber scheint labil, sein Gemüt ist leicht beeinflußbar, das weiß er selber, weshalb er die Flucht nach vorne antritt und gleich davon berichtet und es auch für nötig hält, uns über die Einnahme eines Schlafmittels zu informieren.

„Die Angelegenheiten meiner Mutter und jetzt komme ich drauf, derentwegen ich jeden zweiten Monat Zürich, diese Stadt der Angeber und der Aufschneider und der Erniedrigung, aufsuchen mußte, hatten mich seit Jahren vollends paralysiert...“ Er entschließt sich, seine Mutter, die im Kopf, aber nicht nur dort krank ist, alle zwei Monate zu besuchen und ihr Elend zu akzeptieren: „...,in dem meine Mutter in ihrer Wohnung seit Jahrzehnten dahinlebte, umgeben von kullernden, leeren Wodkaflaschen, von ungeöffneten Rechnungen der diversen Zürcher Zobelpelzlager und den knisternden Folien ihrer Schmerzmittelpackungen.“ Die Mutter lebt nicht immer dort. Zwischendurch muß sie in die Psychiatrie Winterthur, was kein Zuckerschlecken ist und wo sie ihren Achtzigsten feiern mußte, woraus sie sich aber mangels eines Gerichtsbeschlusses „durch ihre raffinierten Manipulationen, durch ihre schroff deklarierte Kaltblütigkeit dem sie untersuchenden Gegenüber zu suggerieren, es sei alles in bester Ordnung, man müsse sie lediglich wieder in ihre Wohnung lassen...wo sie dann mit billigem Weißwein mit Schraubverschluß, einem absurden Medikamentencocktail, auch Tiefkühlkost in einem schimmeligen Kühlschrank dahinvegetiert, ständig stürzt, was zu Verletzungen im Gesicht führt und wenn er ihr Blut vom Boden aufwäscht, dann wirft ihm die Mutter dies auch noch vor, insgesamt ein völliges Desaster, was mit dem Zerfall der ganzen Familie korrespondiert.

Aua. So geht das weiter. Hinzu kommt, daß seine halb demente Mutter steinreich ist, von den, vom Sohn verachteten Waffenfabriken Aktien besitzt und ebenso Millionen aus der Milchverarbeitung bezieht, Millionen, die sie ja nicht einmal nutzt, sondern lieber die arme Alte gibt.

Und aus dieser desaströsen Familiensituation steigen Mutter und Sohn gemeinsam aus, indem sie ein Taxi besteigen, erst einmal – komisch, komisch! - sich die Millionen der Mutter von der Bank holen und in eine Plastiktüte stecken und dann eigentlich nach Afrika fahren, aber in der Schweiz unterwegs sind in einer phantastischen Reise, die zu der schönsten Reiseerzählungen gehört, die ich überhaupt kenne, denn wir lesen von nachgetragener Liebe des Sohnes zur Mutter – und das zu Lebenszeiten. Schon wieder nachgetragene Liebe. Die durchzieht zwar auch die bisher gelesenen Romane zur Zwanzigerliste zum Deutschen Buchpreis, aber nirgends wird eine solche Liebesgeschichte erzählt wie hier.

Man gewinnt sie lieb, die beiden Protagonisten, die sich aufmachen auf  ihre phantastischen Reise durch die geordnete Schweiz, die eine Reise in die Gestaden der Romantik ist, ja genau, die der Schwarzen Romantik auch, denn unterwegs passiert derart Dramatisches, daß man um beide Angst bekommt, daß es aber immer gut ausgeht, gehört eben auch zu guten Reisegeschichten. Ich lasse sie alle liegen, die ganzen Notizen, die ich beim Lesen verfaßte, denn einerseits passiert so viel, daß man das unmöglich wiedergeben kann und andererseits sollen Sie das alles selber lesen.

Ich auf jeden Fall gebe mein Erstaunen kund, daß ich einen so warmherzigen, wirklich ans Herz gehenden Roman mit den raffiniertesten Kapriolen nicht erwartet hatte, bei dem mir völlig wurscht ist, wie Autor Christian und Erzähler Christian übereinstimmen oder nicht. Das ist elegant erzählt, mal ist es Humor, mal Ironie, die einen lachen läßt. Das ist einfach ein faszinierendes Buch, dem gelingt, Kritik an Auswüchsen der Zeitgeschichte aus der Vergangenheit zu begründen, aber gleichzeitig klarmacht, daß wir heute eine andere Gesellschaft möglich machen könnten, wenn wir nur wollten und wenn wir wollten, könnten wir auch!

Bin ich froh, daß ich durch die Auswahlentscheidung der Jury und unsere Entscheidung, alle zwanzig Romane zu besprechen, gezwungen war, EUROTRASH lesen zu müssen!

P.S.: Es paßte einfach nicht mehr in den Kontext, oben auf die zweite Verwirrung auf Seite 18 einzugehen. Da heißt es nämlich, „Wenn man in Zürich war, dachte man ja immer, es würde einen der Geist von Joyce und des Cabaret Voltaire umwehen, aber in Wirklichkeit war es lediglich eine Stadt der geldgierigen Oberleutnants und selbstherrlichen Strizzis.“
Was und wer mir dabei fehlt ist Canetti, dessen Geist doch auch in Zürich wehte, wo er im Verlauf der 80er Jahre seinen Hauptwohnsitz einnahm und dort 1994 starb. Das müßte der 1966 im Kanton Bern geborene Kracht doch wissen, ach was, er weiß es. Na gut, gebe ich es zu, warum mich das Fehlen Canettis stört. Nicht allein, weil ich eine Canettiliebhaberin bin, nur seines Werks, sonst war der Mann ganz schön grauslich, sondern weil ich ihm, dem auffälligen Weißschopf, einst zufällig auf der Brücke über die Limmat (Bahnhof) begegnet bin und nicht die Traute hatte, ihn anzusprechen. Ein ewiges Bedauern.

Foto:
Cover

Info:
Christian Kracht, Eurotrash, Kiepenheuer & Witsch, März 2021
ISBN 978 3 462 05083 7

Hier vermisse ich ein Lesebändchen ausdrücklich!