himmel 100Serie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 9

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das Schönste an diesem Buch ist das, was die Schriftstellerkollegin Judith Schalansky über diesen Roman auf der inneren Umschlagseite schreibt. „...es ist nicht nur eine untergegangene Welt, die Yulia Marfutova hier mit quecksilbriger Fabulierkunst erschafft, sondern ein unbändiger, sprachbesessener, sich selbst fortwährend ins Wort fallende Erzählorganismus , der einmal mehr beweist, daß es die Abschweifungen sind, die eine gute Geschichte ausmachen.“

Wie schade, daß ich das alles beim Lesen nicht wiederfand. Ich kann gar nichts Schlechtes über diesen kurzen Roman von 184 Seiten in 43 Kapiteln sagen, will es auch auch gar nicht. Ich kann nur nichts Gutes darüber sagen, beispielsweise, wie interessant die Lektüre gewesen wäre, wie einfühlsam, wie geschichtsnah, also historisch, wie dörflich und endlich, ja, wie russisch! Leider, nein.

Wir sind also in Rußland vor hundert Jahren. Vor hundert Jahren? Das wäre nach der Russischen Revolution im Jahr 1917 dann die Sowjetunion. Aber die Geschichte klingt nach sehr viel früher, sagen wir einfach rund 1900. Denn ‚hundert Jahre‘ klingt auch nicht nach 1-2-3 ...100 Jahren, sondern einfach nach Vergangenheit, die schon länger vergangen ist. Eigentlich ist die Geschichte sogar zeitlos und hätte mit anderen Gegenständen auch weitere hundert Jahre zuvor spielen können. Eigentlich ist es auch gar keine Geschichte, sondern ein Ausschnitt aus dem Leben in einem kleinen, will sagen, überschaubaren Dorf, wo ein Fluß, naja, ein Gewässer, ach was, ein richtiger Fluß sogar den Fischfang möglich macht.

Aber, ich liege falsch, denn zwischendurch lese ich auf der Rückseite des Umschlags, daß es sich um eine russisches Dorf „um das Jahr 1918““ handelt. „Die Revolution hat längst stattgefunden, aber die Bewohner haben von den historischen Ereignissen noch nichts erfahren.“ Also lag ich doch richtig. Das ist hier ja nachgerade Dialektik!

Das Eigentliche im schmalen Band sind die Figuren, archaisch, eher ja doch Typen, doch, doch, individuell schon, aber wie im Puppentheater Charaktere, und mit Kasperle gesprochen: Sind wir alle da? Und das ist mitnichten abwertend gemeint, die commedia dell‘arte ist ja eine hohe Kunst, das Schnitzen der Puppen auch und Menschen in einem Roman so individuell menschliche Züge zu geben, daß sie unverwechselbar werden, das passiert eben nicht alle Tage. Vor allem aber, das ist mein Eindruck, hat dies Yulia Marfutova auch gar nicht gewollt. Ich glaube, daß sie wie auf einem Gemälde aus alter Zeit ein Tableau entworfen hat, mit dem Unterschied, daß die Menschen nicht statisch dastehen, bzw. in ihrer Tätigkeit eingefroren wurden, sondern daß sie sich bewegen und sprechen.

Aber, ein wenig hölzern, ein abgeschriebenes Bühnendeutsch dann eben doch. Aber auch da unterstelle ich ihr Absicht, denn sonst müßte ich das Ganze ja schlecht finden, doch das tue ich nicht. Es ist mir nur so schrecklich fern, sehr viel ferner als 100 Jahre oder sehr viel ferner als mitteleuropäische Romane des 18. Jahrhunderts.

Um was es geht. Um Glauben und Aberglauben. Um Männer und Frauen. Und auch darum, daß Frauen immer zwei Wege im Auge haben, während Männer auf einem einzigen Pfad stapfen und sich dabei auch noch oft verirren oder stecken bleiben. Wäre sie so, Iljas Frau – wie heißt sie eigentlich?, immer nennt man sie selber Iljas Frau –, wäre sie schon längst verrückt geworden, so aber hält sie Maß, gibt dem Ehemann, was des Ehemanns ist, nämlich den Glauben an die Weissagungen des Röhrchens, das wie ein Fieberthermometer oder ein Barometer beschrieben ist und das Ilja in der Tasche mit sich herumträgt, um jederzeit die Zukunft vorhersagen zu können, steigender Luftdruck – gutes Wetter – , genauso wie fallenden – schlechtes Wetter. An ihn und sein Röhrchen zu glauben, das ist schon eine Kunst, aber gleichzeitig auch den alten, weißbärtigen und -haarigen Pjotr zu seinem Recht, zu seiner Wichtigkeit, zu seiner Verehrung kommen zu lassen, das ist weibliche Kunst, Ehefrauenkunst sowieso.

Der eine hat sein Röhrchen zur Wichtigtuerei der Wahrsagerei, der andere ist ein Naturphänomenerforscher. Denn Pjotr kennt die Natur, kennt das Wetter, kennt die Nebel über dem Fluß etc. Soll das eine Metapher für Wissenschaft/Röhrchen einerseits und Naturreligion und Mystizismus sogar Gott (er wird äußerlich beschrieben wie ein Gottvater der Kindheit) andererseits sein oder ist es gerade umgekehrt, das Röhrchen sind des Kaisers neue Kleider, also Humbug und Wichtigtuerei, und der Wissenschaftler ist derjenige, der die Natur beobachtet, wahrnimmt, Schlüsse zieht.

Ich krieg‘s nicht raus, in meinem ganzen Leben nicht, auf den 184 Seiten auch nicht, was mit den Leuten wirklich los ist, auf wen sie warten, gewartet haben, enttäuscht wurden, weiter hoffen. Ich wünsche ihnen auf jeden Fall, daß sie wissen, was sie tuen.

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Info:
Yulia Marfutova, Der Himmel vor hundert Jahren, Rowohlt, März 2021
ISBN 978 3 498 00189 6