Keun Nach Mitternacht 72 dpi„Frankfurt liest ein Buch“ hat sich für 2022 festgelegt. Erweiterte Fassung

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bei der Entlarvung und historisch korrekten Einordnung des NS-Staats kommt der Literatur, insbesondere Autobiografien und authentischen Romanen, eine wichtige Rolle zu.

Ob Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“, der aktuell eine neue Aufmerksamkeit erfährt, das leisten kann, ist jedoch umstritten. Denn es handelt sich um fiktive Lebensgeschichten aus dem Alltag normaler Leute, also von Mitläufern, Anhängern und Widerständlern. Eine Gesamtschau oder Gesamtdeutung hat die Autorin nach Einschätzung der Literaturwissenschaft gar nicht beabsichtigt. Walter Killys „Deutsche Literaturgeschichte“ sieht deswegen auch keine „differenzierte Analyse der politischen und gesellschaftlichen Strukturen hinter der Alltagswirklichkeit“. Das eröffnet Interpretationsfreiräume, die sich beispielsweise in Barbara Bürks Theaterinszenierung zeigen, die gegenwärtig im Schauspiel Frankfurt aufgeführt wird. Judith von Sternburg hat in der Frankfurter Rundschau am 20. September in ihrer Kritik auf die Ambivalenz der literarischen Vorlage hingewiesen, die sich in der Bühnenfassung Bahn bricht: „Nicht nur die ironisch heroischen Tableaus, mit denen das Nazitum der Lächerlichkeit preisgegeben wird, hinterlassen den Nachgeschmack, dass das Flotte und Distanzierte am Ende lediglich einen Zipfel der Welt erfasst, der Roman »Nach Mitternacht« aber weit mehr davon.“

Möglicherweise waren solche Überlegungen der Grund für die Jury von „Frankfurt liest ein Buch“, den Roman zum Vorlesebuch des Jahres 2022 zu küren (2. bis 15. Mai). Allerdings: Erzählungen über diese Zeit des Ungeists und des Terrors, vielfach von Augenzeugen verfasst, waren bereits mehrfach Gegenstand des sogenannten Lesefests. So Valentins Sengers „Kaiserhofstraße 12“ (2010), das durch Authentizität und Erzählstil überzeugte. Auch Silvia Tennenbaums „Straßen von gestern“ (2012) führten auf gekonnte Art und Weise durch eine Welt, die durch Rassenhass und Krieg moralisch und materiell unterging. Mirjam Presslers „Grüße und Küsse an alle“ (2015) waren eine Annäherung an Anne Franks Familie. Jedoch fehlte dem Roman das Kunstvolle, was Literatur ausmachen sollte. Anders Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“ (2018), das die Augen jener, die sehen wollten, bereits früh auf den Antisemitismus in Nazi-Deutschland lenkte. Deswegen kann man ihr den Kolportagestil auch nachsehen. Dieter David Seuthes Roman: „Frankfurt verboten“ (2016), der das Schicksal einer fiktiven jüdischen Musikerin beschreibt, war hingegen auf seltsame Weise substanzlos. Sowohl bei der Zeichnung der Figuren als auch beim Ausleuchten der Strukturen des NS-Staats vermisste man sowohl historische Kompetenz als auch professionelles Erzählen.

Eine überlieferte jüdische Weisheit lautet: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Geschichte ist nie vergangen, sie muss weitererzählt werden, damit spätere Generationen sie reflektieren können. Doch gerade darum muss sie gut erzählt werden. Und sie sollte nicht von einer geradezu inflationären Quantität bestimmt sein. Denn solches deutet auf Verdrängung durch Masse hin.

Darum frage ich mich, ob in Frankfurt politische Skandale erst dann ein offizielles Thema sein dürfen, wenn das Geschehen weit zurückliegt und die jeweilige Neubefassung den Hauch einer Alibiveranstaltung hat. Haben die Juroren möglicherweise Angst vor jener Literatur, die ihre Finger in die offenen Wunden unserer Tage legt? Wobei die Niedertracht von heute durchaus seine Wurzeln im Versagen von gestern und vorgestern haben könnte.

Eckhard Henscheids „Die Vollidioten“ (2014) war eine eher unpolitische Milieuschilderung, haarscharf vorbei an der 68er Epoche. Herbert Heckmanns „Benjamin“ (2017) und Martin Mosebachs „Westend“ (2019) spielten in einem erkennbar synthetischen Frankfurt, in Erich Kubys „Rosemarie“ (2020) waren einige Frankfurter Straßennamen das einzige Lokalkolorit. Vor allem aber vermisst man valide Informationen über die Gesellschaft der 50er Jahre. Bei Eva Demskis „Scheintod“ (2021) wurde dem gut informierten Leser nicht klar, ob es sich um die Abrechnung mit dem Ex-Ehemann oder um eine unbeholfene Auseinandersetzung mit der RAF-Zeit handelt. Siegfried Kracauers „Ginster“ (2013) war ein lesenswerter Roman mit vielen autobiografischen Details über den Ersten Weltkrieg. Aber das Buch verstellte den Blick auf ein viel wichtigeres aus der Feder des Autors. Nämlich auf „Die Angestellten“, eine Milieustudie über Arbeitnehmer am Vorabend des Dritten Reichs. Wilhelm Genazinos „Abschaffel“ (2011) dürfte der literarischste Roman von allen gewesen sein, der jemals auf den unterschiedlichsten Bühnen von „Frankfurt liest ein Buch“ dargeboten wurde und der die Spießerexistenz eines fiktiven Durchschnittsarbeitnehmers zum Inhalt hat. Wirklich politisch im Sinn von investigativer Entlarvung des ewigen Mitläufers, der sich in sämtlichen Systemen über Wasser hält, ist diese Trilogie jedoch nicht.

Diese Auflistung könnte tatsächlich die Mutmaßung nahe legen, dass Frankfurt literarisch aus der Zeit gefallen scheint. Die Welt ist auch hier nicht in Ordnung, aber dieser Zustand dringt anscheinend nicht vor zu den ehrwürdigen Literatursponsoren, die Distanz und Beschaulichkeit als Credo einer Stadtgesellschaft zu definieren scheinen.

Denn während sich Normalverdiener und auch die etwas besser Verdienenden eine Wohnung in der Mainmetropole kaum noch leisten können und die Gentrifizierung längst eingesetzt hat, erinnert sich keiner der Literaturkundigen beispielsweise an Gerhard Zwerenz‘ Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ (1973), der die Vorlage abgab für Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dessen für den 31.10.1985 geplante Uraufführung durch die Besetzung der Bühne in den Kammerspielen verhindert wurde. Sowohl der Roman als auch das Theaterstück passten noch heute als kritische Selbstreflexion in die Stadt und in diese Zeit.

Ebenso gut passen würden Peter Kurzecks Romane, in denen er atemlos durch Frankfurt eilt, meist zu Fuß oder per U-Bahn und S-Bahn. Immer seiner nicht angetrauten Partnerin sowie seiner kleinen Tochter auf den Fersen und sich überall selbst im Wege stehend. Es sind Romane von unendlicher Traurigkeit, aus deren Zeilen jedoch ständig Hoffnung fließt auf bessere Zeiten und in denen selbst die Niederlagen als zu akzeptierende Stationen einer persönlichen Entwicklung erscheinen. Ja, das Tempo dieser Erzählungen muss durch einen professionellen Vortrag auf die Zuhörer übertragen werden. Aber wo bedarf es denn keiner sprecherischen Grundbegabung?

Auch Jörg Fausers Romane über die Randständigen, über die in den gesellschaftlichen Schatten Gedrängten, die zum Teil in Frankfurt spielen, passten auch dreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung in diese Stadt der unbegrenzten Widersprüche.

Frankfurt könnte viele Bücher lesen, die ungeschminkt über seine Abwege und Irrwege Auskunft geben. Nicht als Beigaben zu einer Zeremonie, in der die alte Welt zu Grabe getragen wird, sondern als Start zu einem kulturellen Aufbruch, der gleichzeitig die Metaebene einer gesellschaftlichen Neubesinnung wäre.

Foto:
Cover der Ausgabe für die Büchergilde Gutenberg
© Büchergilde 1998

Info:
Weltexpresso hatte am 5.10. folgenden Beitrag von Klaus Philipp Mertens veröffentlicht:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/23379-die-wiederentdeckung-von-irmgard-keuns-roman-nach-mitternacht,
der auf großes Interesse und mehrere Nachfragen führte, weshalb der Autor heute eine erweiterte Fassung vorlegt.