Bildschirmfoto 2021 10 10 um 11.10.22Die Bestenliste  des Österreichischen Rundfunkdes  (ORF) im Oktober , 1/2

Redaktion

Wien (Weltexpresso) - Heute machen wir es wirklich umfassend. Die Vergleiche bringen zur Erkenntnis viel! Denn bisher ging es ja nur um Verkaufszahlen! Das interessiert die Verlegerverbände, die die Zahlen erheben und weitergeben. Sicher, manche Leute wollen gerade das lesen, was eine große Leserzahl gefunden hat. Aber wir beurteilen einen potentiellen Bücherkauf natürlich nicht nach der Auflage, sondern entweder sagt uns der Autor sowieso etwas und wir wollen alles von ihm, von ihr lesen oder wir hören von Leuten, die wir für literaturaffin halten, etwas Positives über dieses Werk. Der ORF hat einen guten Namen mit seinen Listen, die Literatur in eine Bestenliste bringen, wenngleich. jeder weiß, daß dies "eigentlich" nicht geht. Die Redaktion


Im Oktober geht der erste Platz geht an Alois Hotschnigs neuen Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ (Kiepenheuer & Witsch). Eva Menasse befindet sich mit „Dunkelblum“ (Kiepenheuer & Witsch) auf Platz 2. Michael Köhlmeier belegt mit „Matou“ (Hanser) Platz 3.

Alois Hotschnig (1959 in Kärnten geboren) zählt zu den herausragendsten Literaten Österreichs, nur eines ist er nicht: ein Vielschreiber. 13 Jahre sind seit seiner letzten Veröffentlichung vergangen, nun ist der Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ erschienen, dem die Lebensgeschichte des Schauspielers Heinz Fitz zu Grunde liegt. „Heinz Fritz“ nennt Hotschnig den Ich-Erzähler seines Romans, der darin Klarheit über die Frage nach seiner Herkunft sucht. Während des zweiten Weltkriegs wurde er in Hohenems als Sohn einer Norwegerin und eines Wehrmachtssoldaten geboren, die Mutter war dem Kindsvater hochschwanger nach Vorarlberg nachgereist, als „Deutschenflittchen“ aus ihrer Heimat verstoßen. Ihr Glück sollte sie jedoch auch dort nicht finden – denn der Soldat, der einst mit einem teuren Silberfuchsmantel um sie geworben hatte, war inzwischen mit einer anderen verlobt.

„Dunkelblum“ nennt sich der fiktive Ort, an dem Eva Menasse die Handlung ihres neuen Romans ansiedelt. Es ist das geschichtsträchtige Jahr 1989 und nicht nur die Unruhe an der nahen ungarischen Grenze versetzt die burgenländische Gemeinde in Aufruhr – es sind vor allem unangenehme Fragen, die den Bewohnern und Bewohnerinnen plötzlich gestellt werden. Fragen nach der Vergangenheit, nach der Zeit kurz vor Kriegsende und den jüdischen Zwangsarbeitern, die damals in der Region ermordet wurden. Wie schon Elfriede Jelinek und zuletzt Raphaela Edelbauer arbeitet sich Eva Menasse an dem Rätsel des Massakers von Rechnitz ab. Dabei maßt sich die Schriftstellerin keine Antworten auf die Hintergründe des Verbrechens an, vielmehr geht es um die Frage, wie so viele so lange schweigen konnten.

Es sei die Summe seiner bisherigen Schriftstellerei, sagt Michael Köhlmeier über seinen neuen Roman „Matou“. Das knapp 1000-seitige Monumentalwerk ist ein buchstäblicher Streifzug durch die Jahrhunderte: denn die titelgebende Hauptfigur ist ein Kater, der von seinem Schöpfer mit sieben Leben und einem unstillbaren Wissensdurst ausgestattet wurde. Geboren wird Matou zur Zeit der französischen Revolution, seine sieben Leben führt der Kater an der Seite unterschiedlichster Persönlichkeiten, er lebt mit prominenten Künstlern genauso wie mit Politikern. Der Roman ist voller literarischer, philosophischer und historischer Verweise: Im Zentrum steht dabei stets die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet.


Hier finden Sie die vollständige Wertung.
Der Beste im Oktober 2021: Alois Hotschnig
Text: Joachim Leitner, Tiroler Tageszeitung


Eine Erzählung über die Notwendigkeit des Erzählens: Alois Hotschnig legt mit „Der Silberfuchs meiner Mutter“ einen neuen Roman. Im Rahmen eines heute startenden Hotschnig-Schwerpunkts wird er präsentiert.

Innsbruck – Alois Hotschnig ist ein verwegener Erzähler – und er gehört doch zu den ruhigeren Vertretern seiner Zunft. Auch um den seit Langem in Innsbruck lebenden Autor ist es zuletzt ruhig geworden. Beinahe dreizehn Jahre ist es her, dass Hotschnig sein letztes Buch veröffentlicht hat. Die Erzählsammlung „Im Sitzen läuft es sich besser davon“ (2009) habe ihn an einen Endpunkt gebracht, sagt er: „an einen Horizont, an dem ich mich neu orientieren musste“. Der Schweizer Essayist Markus Bundi ist Hotschnigs Weg dorthin bereits 2015 nachgegangen – und hat seinen hellsichtigen Lektürereport mit „Vom Verschwinden des Erzählers“ überschrieben. In Hotschnigs Texten, so Bundis Beobachtung, gibt es keine erkennbare Erzählinstanz mehr, kein „Ich“, „Er“ oder „Sie“, der, die oder das die Lesenden durch das Erzählte führt. Es wird nichts vorgekaut oder nachgebetet. Der Text entfaltet sich – ohne Sicherheitsnetz, aber bisweilen mit doppeltem Boden. Er lässt sich nicht einfach (weg-)lesen. Er fordert für sich ein, erlesen zu werden.

Mit „Der Silberfuchs meiner Mutter“ erscheint nun ein neuer Roman von Alois Hotschnig. Schon das Possessivpronomen im Titel macht klar: Da sagt jemand „ich“. Hat Hotschnig also am Horizont seines radikalen Erzählexperiments kehrtgemacht? Im Gegenteil: „Der Silberfuchs meiner Mutter“ ist ein konsequent-komponierter Schritt nach vorne auf bislang noch unerschlossenes Erzähl-Territorium – und mithin Hotschnigs riskantester Text.

Aber der Reihe nach: Ja, da sagt einer „ich“. Mehr noch: Hotschnig entwickelt seine Erzählung aus einer tatsächlichen Begebenheit. Er erzählt an einem echten Leben entlang. Auf den ersten Blick folgt „Der Silberfuchs meiner Mutter“ biografischen Etappen des früheren Landestheater-Schauspielers Heinz Fitz.

Fitz, Jahrgang 1942, Sohn eines Wehrmachtssoldaten und einer Norwegerin kam kurz nach seiner Geburt in ein so genanntes „Lebensborn“-Heim der SS. Dort sollte der kruden nationalsozialistischen Rassentheorie folgend „erbgesunder“ Nachwuchs herangezogen werden.

In den vergangenen Jahren hat Fitz seine Lebensgeschichte – das spätere Heranwachsen mit einer fremden Mutter, die Ablehnung von Stief- und leiblichem Vater, die Flucht ins Schauspiel – öffentlich gemacht. Hotschnig hat durch eine Fernsehdoku, in die er zufällig zappte, von ihr erfahren – und das Gespräch mit Fitz gesucht. „In der Hoffnung, dass, sein Einverständnis vorausgesetzt, der Austausch zum Ausgangspunkt eines Romans werden könnte“, sagt der Autor.


Roman also, nicht Biografie; Erzählung, nicht Nacherzählung. Und Erzählen heißt bei Hotschnig immer bedingungsloses Erzählen. Das Erzähl-Ich heißt Heinz Fritz. Ein Schlüsselroman ist „Der Silberfuchs meiner Mutter“ trotzdem nicht. Das Text-Ich ist mehr, als eine um ein R erweiterte Version dessen, was man gemeinhin Realität nennt. Die Spuren der Realität sind vielmehr der Schlüssel zu einer Geschichte über das Erzählen von Geschichten. Der Erzähler sagt „ich“. Er erinnert sich. Und der Text erklärt das „ich“ und sein Erinnern zu Behauptungsversuchen. Dieses „ich“ ist die Summe vieler „ichs“, es speist sich aus vielen Stimmen, aus Erfahrenem und Angelesenem, aus sprichwörtlich Erprobtem und Zugeschriebenem. Dieses „ich“ ist multiperspektivisch wie ein kubistisches Bild. Seine Geschichten widersprechen sich. Es gibt Brüche und Leerstellen und andere Geschichten, die sie füllen. Manche lassen sich nachprüfen. Andere bleiben auch ohne Beleg wirkmächtig.

Da erzählt einer um sein Leben, erzählt sich – und legt dabei ganz andere Geschichten frei. Die Geschichte einer Mutter, die weder all zu eindeutiges Opfer war noch klare Täterin; die Geschichte eines Schauspielers, der erst zu sich findet, wenn er andere spielt; die Geschichte eines Lebens, das exemplarisch für viele Leben steht – und die doch nicht zum Exempel taugt. „Der Silberfuchs meiner Mutter“ ist kein weiteres Kapitel NS-Kitsch, kein der Wirklichkeit entlehntes Rührstück aus dunklen Zeiten, keine einfache Anklage und keine mit Fiktion ausgepolsterte Geschichtsstunde.

Der Roman ist eine Erzählung über die Notwendigkeit des Erzählens – und darüber, dass es keine einfachen Geschichten gibt. Mit anderen Worten: Das Warten auf Alois Hotschnigs neues Buch, seinen ersten Roman seit „Ludwigs Zimmer“ (2000), hat sich gelohnt. „Der Silberfuchs meiner Mutter“ ist große Erzählkunst. In Innsbruck wurde sein Erscheinen mit einem dreitägigen Hotschnig-Schwerpunkt gewürdigt.




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Info:
Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Kiepenheuer & Witsch

Über die ORF-Bestenliste:
Seit Mai 2003 kürt eine Jury aus unabhängigen Literaturkritiker*innen und Buchhändler*innen jeden Monat eine Liste von jeweils zehn empfehlenswerten Buch-Novitäten. Sie soll dem Publikum die Orientierung im Neuerscheinungs-Dschungel von 90.000 Titeln jährlich erleichtern.
Quelle: ORF-Bestenlise