Bildschirmfoto 2021 10 12 um 21.59.12Die Bestenliste  des Österreichischen Rundfunkdes  (ORF) im Oktober, 2/2

Redaktion

Wien (Weltexpresso) - Wir fanden das doch erstaunlich, wie inhaltsreich die Jury des ORF die Bestenauslese begründet. Denn allein mit den Begründungen kann man überhaupt eine Haltung zur Auswahl entwickeln. Schließlich sollen sie ja informieren, damit es der Leser, die Leserin leichter hat unter der nicht mehr überschaubaren Anzahl von veröffentlichten Büchern, hier: Romane, so etwas wie Orientierung zu erfahren. Es gibt aber auch welche, die über diesen Weg überhaupt erst von Neuerscheinungen erfahren und denen nicht die Begründungen wichtig sind, sondern die reine Information, von wem es neue Romane gibt.
 
Hierbei ist für uns interessant, inwieweit die für den Deutschen, den Österreichischen und den Schweizer Buchpreis Nominierten eine Rolle spielen. Eine geringe, kann man da nur sagen!

Im Deutschen Buchpreis der Zwanzigerliste findet sich Nr. 7. ex aequo: Georges-Arthur Goldschmidt (12 Punkte) "Der versperrte Weg", Wallstein, wieder, allerdings ist Goldschmidts Erinnerungsepos leider nicht in die Sechserliste gelangt. Auch die hier Neunte,  Sasha Marianna Salzmann (11 Punkte) NEU
Im Menschen muss alles herrlich sein, Suhrkamp, war in der Zwanzigerliste nominiert. Aber beispielsweise alle diejenigen, die in die Sechserliste ausgewählt wurden, spielen für die ORF-Liste keine Rolle. Das ist ganz wertneutral ausgedrückt, denn, um beurteilen zu können, welche Liste einem selbst besser gefiele, müßte man alle Bücher gelesen haben. Aber gleichzeitig sieht man auf einen Blick, daß Eva Menasses DUNKELBLUM wenigstens hier gelistet ist und auf der Liste des Deutschen Buchpreises unverständlicherweise fehlt! Das gilt auch für Michael Köhlmeier. 

Im Österreichischen Buchpreis sieht es nicht besser aus, sondern noch schlechter aus. Selbst der einzige Roman, der auf der Deutschen und der Österreichischen Liste, gemeinsam steht: Monika Helfers VATI, kommt hier nicht vor? Es gibt überhaupt keine einzige Übereinstimmung zwischen den 13 Nominierungen zum ÖB und den 10 Nennungen der ORF-Bestenliste!!

Da kann man sich den Schweizer Buchpreis gleich schenken, denn der hat immer nur fünf Nominierte, von denen der Bekannteste, Christian Kracht, der es - mit Recht - auch unter die letzten Sechs des Deutschen Buchpreises geschafft hat, seine Nominierung zurückzog, also noch vier Ausgewählte bleiben, von denen niemand auf der ORF-Liste steht.


Die besten 10 im Oktober 2021

Die Jury hat aus den unzähligen Neuerscheinungen ihre Lieblingsbücher gewählt.


1. Alois Hotschnig (33 Punkte) NEU
Der Silberfuchs meiner Mutter, Kiepenheuer & Witsch

Alois Hotschnig (1959 in Kärnten geboren) zählt zu den herausragendsten Literaten Österreichs, nur eines ist er nicht: ein Vielschreiber. 13 Jahre sind seit seiner letzten Veröffentlichung vergangen, nun ist der Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ erschienen, dem die Lebensgeschichte des Schauspielers Heinz Fitz zu Grunde liegt. „Heinz Fritz“ nennt Hotschnig den Ich-Erzähler seines Romans, der darin Klarheit über die Frage nach seiner Herkunft sucht. Während des zweiten Weltkriegs wurde er in Hohenems als Sohn einer Norwegerin und eines Wehrmachtssoldaten geboren, die Mutter war dem Kindsvater hochschwanger nach Vorarlberg nachgereist, als „Deutschenflittchen“ aus ihrer Heimat verstoßen. Ihr Glück sollte sie jedoch auch dort nicht finden – denn der Soldat, der einst mit einem teuren Silberfuchsmantel um sie geworben hatte, war inzwischen mit einer anderen verlobt.


2. Eva Menasse (29 Punkte)
„Dunkelblum“, Kiepenheuer & Witsch

„Dunkelblum“ nennt sich der fiktive Ort, an dem Eva Menasse die Handlung ihres neuen Romans ansiedelt. Es ist das geschichtsträchtige Jahr 1989 und nicht nur die Unruhe an der nahen ungarischen Grenze versetzt die burgenländische Gemeinde in Aufruhr – es sind vor allem unangenehme Fragen, die den Bewohnern und Bewohnerinnen plötzlich gestellt werden. Fragen nach der Vergangenheit, nach der Zeit kurz vor Kriegsende und den jüdischen Zwangsarbeitern, die damals in der Region ermordet wurden. Wie schon Elfriede Jelinek und zuletzt Raphaela Edelbauer arbeitet sich Eva Menasse an dem Rätsel des Massakers von Rechnitz ab. Dabei maßt sich die Schriftstellerin keine Antworten auf die Hintergründe des Verbrechens an, vielmehr geht es um die Frage, wie so viele so lange schweigen konnten.

 

3. Michael Köhlmeier (25 Punkte)
„Matou“, Hanser

Es sei die Summe seiner bisherigen Schriftstellerei, sagt Michael Köhlmeier über seinen neuen Roman „Matou“. Das knapp 1000-seitige Monumentalwerk ist ein buchstäblicher Streifzug durch die Jahrhunderte: denn die titelgebende Hauptfigur ist ein Kater, der von seinem Schöpfer mit sieben Leben und einem unstillbaren Wissensdurst ausgestattet wurde. Geboren wird Matou zur Zeit der französischen Revolution, seine sieben Leben führt der Kater an der Seite unterschiedlichster Persönlichkeiten, er lebt mit prominenten Künstlern genauso wie mit Politikern. Der Roman ist voller literarischer, philosophischer und historischer Verweise: Im Zentrum steht dabei stets die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet.


4. Douglas Stuart (17 Punkte) NEU
Shuggie Bain, Hanser Berlin
Übersetzung: Sophie Zeitz

Mit seinem ersten Roman hat der schottisch-amerikanische Schriftsteller Douglas Stuart sogleich für Aufsehen gesorgt: 2020 wurde „Shuggie Bain“ mit dem Booker Price ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis im englischen Sprachraum. Stuart wurde 1976 in Glasgow geboren, lebt seit 2000 in New York, hat als Modedesigner für Marken wie Calvin Klein oder Ralph Lauren gearbeitet und lange nur nebenher geschrieben. Die Geschichte, die er in seinem Debütroman erzählt, hat viele Übereinstimmung mit seiner eigenen: „Shuggie Bain“ erzählt von einem Jungen, der in den 80er Jahren in einem ärmlichen Viertel in Glasgow aufwächst. Der Vater ist ein unzuverlässiger Frauenheld, der sich seinen Verpflichtungen entzieht und schnell handgreiflich wird. Die Mutter verfällt zunehmend dem Alkohol - sie zu retten, darum dreht sich das Leben des heranwachsenden Sohnes. „Shuggie Bain“ ist ein zärtliches Porträt einer Frau, die nicht anders kann, als am Leben zu scheitern. Gewidmet hat Douglas Stuart das Buch seiner Mutter, die dem Alkohol erlag als er sechzehn Jahre alt war.


5. Angela Lehner (16 Punkte)
"2001", Hanser Berlin

Für ihren ersten Roman „Vater unser“ erhielt Angela Lehner gleich mehrere Preise, darunter den renommierten Rauriser Literaturpreis und den österreichischen Buchpreis für das beste Debüt. In ihrem neuen Roman reist Lehner zurück in das Jahr 2001, und damit in die Zeit ihrer eigenen Jugend. Es ist jenes Jahr, in dem Discmans und Tastenhandys noch existiert haben, BSE die Schlagzeilen dominiert hat, und 9/11 schließlich den weltweiten Krieg gegen den Terror eingeläutet hat. Schauplatz des Romans ist ein Wintersportort in den österreichischen Bergen. Lehner macht eine Jugendliche zur Ich-Erzählerin, die elternlos, immer öfter die Schule schwänzt, und von einer Rap-Karriere träumt. Mit „2001“ ist Angela Lehner ein starkes Generationenporträt gelungen, humorvoll und unsentimental zugleich.

 
6. Barbi Marković (13 Punkte) NEU
Die verschissene Zeit, Residenz

Barbi Marković wurde 1980 in Belgrad geboren und lebt seit 2006 in Wien, seit vielen Jahren zählt sie zum markantesten literarischen Nachwuchs im deutschsprachigen Raum. In ihrem neuen Roman „Die verschissene Zeit“ beschäftigt sie sich mit dem Aufwachsen in Kriegszeiten im Serbien der 1990er Jahre. Im Zentrum stehen eine Gruppe Jugendlicher, die den hereinbrechenden Krieg mithilfe eines Computerspiels zu bekämpfen versuchen. „Das Leben ist wie ein unauffälliges Monster“, heißt es einmal im Roman: dieser Text ist auch ein überaus gelungener, wild-poetischer Versuch, dieses Monster zu bändigen.


7. ex aequo: Georges-Arthur Goldschmidt (12 Punkte)
"Der versperrte Weg", Wallstein

Am 18. Mai 1938 schickte die Familie Goldschmidt ihre beiden Söhne, Erich (14) und Jürgen-Arthur (10) von Hamburg mit dem Zug zu Verwandten nach Italien. Es ist der Beginn eines Exils, das der 93-Jährige Georges-Arthur Goldschmidt seit mehreren Jahrzehnten im Schreiben zu fassen versucht. Sein jüngstes Buch „Der versperrte Weg“ trägt den Untertitel „Roman des Bruders“ – zum ersten Mal erzählt Goldschmidt ausführlich von seinem älteren Bruder Erich, der ihn auf der Flucht vor den Nazis begleitete, von Italien weiter nach Frankreich, wo sie sich das Brüderpaar in einem katholischen Erziehungsheim verstecken konnte. Mit 18 schloss sich Erich der Résistance an, überlebte den Krieg und wurde später Offizier der Fremdenlegion. „Der versperrte Weg“ ist ein Roman darüber, wie das Schicksal zwei Menschen zusammenschweißt und das Leben sie dennoch voneinander entfernt.

 

7. ex aequo: Paul Nizon (12 Punkte) NEU
Der Nagel im Kopf, Suhrkamp

„Meine Bücher sind einige der besten der Welt!“, hat Paul Nizon einmal gesagt. Im deutschsprachigen Literaturbetrieb gilt der 91-jährige Schweizer seit jeher als eine Ausnahmeerscheinung. Auch, weil er in seiner Wahlheimat Frankreich als derzeit „größter Magier der deutschen Sprache“ gilt, während im deutschsprachigen Raum viele noch nie von ihm gehört haben. Mit „Der Nagel im Kopf“ schreibt Paul Nizon sein im Verlauf der letzten 60 Jahre auf mehrere Tausend Seiten angewachsenes autobiographisches Großprojekt weiter: die „Journale“. Konkret geht es um die Tagebücher der Jahre 2011-2020, in denen der Schriftsteller einmal mehr einer radikalen Welt- und Selbsterforschung nachgeht. „Aber wo ist das Leben? Wie kann ich mich in das Gedächtnis der Literatur einschreiben? Wer bin ich eigentlich?“ – Fragen, die Paul Nizon auch mit über 90 Jahren wie der „Nagel im Kopf“ stecken.

 
9. Sasha Marianna Salzmann (11 Punkte) NEU
Im Menschen muss alles herrlich sein, Suhrkamp

Sasha Marianna Salzmann wurde in Deutschland vor allem als Dramatikerin bekannt, seit 2013 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki-Theater Berlin, „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist ihr zweiter Roman. Im Zentrum stehen vier Frauen, zwei Mütter und zwei Töchter, die alle mit den Nachwehen der Emigration aus der Sowjetunion hadern. Die Flucht in die deutsche Bundesrepublik hat das Leben der Mütter in ein Davor und Danach geteilt – dass die Töchter zu jener Zeit davor keinerlei Bezug aufbauen können, ist der Grund, warum sich die Figuren immer mehr voneinander entfremdet haben. Sasha Marianna Salzmann ist in Moskau aufgewachsen, im Alter von 10 Jahren kam sie nach Deutschland, wo ihre Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge aufgenommen wurde. Den Konflikt zwischen Eltern und Kindern, den ihr Roman schildert, nimmt Salzmann bei vielen aus der Generation der „Post-Sowjets“ wahr. „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist auch ein Aufruf, aufeinander zuzugehen.


 
10. Hervé Le Tellier (10 Punkte) NEU
Die Anomalie, Rowohlt Hundert Augen
Übersetzung: Romy Ritte und Jörg Ritte

In Frankreich ist Hervé Le Tellier seit den 90er Jahren eine literarische Größe, im deutschsprachigen Raum galt der Schriftsteller lange als Geheimtipp. Mit der deutschen Übersetzung seines Romans „Anomalie“, für den er 2020 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, wird sich das wohl ändern – die Übersetzung wurde bisher ebenso euphorisch besprochen wie das Original. Die titelgebende „Anomalie“ im Roman lässt sich wie folgt zusammenfassen: am 10. März 2021 fliegt eine Passagiermaschine zwischen Paris und New York durch ein schweres Unwetter. Anstatt abzustürzen, scheint sich das Flugzeug – inklusive Insassen! – jedoch einfach verdoppelt zu haben. Die eine Boing landet planmäßig im März, die andere taucht einige Monate später plötzlich am Himmel auf. Die philosophischen Fragen, die aus diesem Gedankenspiel folgen, hat Hervé le Tellier in ein literarisches Meisterwerk verwandelt.


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Wir wollten den Erstplazierten nicht ein doppeltes Mal veröffentlichen, deshalb hier die Zweiplazierte, was uns auch deshalb freut, weil Eva Menasse mit ihrem umwerfenden Roman weder beim Deutschen noch dem Österreichischen Buchpreis nominiert wurde, was keiner versteht, der von Literatur etwas versteht
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