keunmitternachtIrmgard Keuns NACH MITTERNACHT, Frankfurt liest ein Buch, 2. – 15. Mai 2022, Teil 1

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Seit September ist bekannt, daß das nächste Buch, das ganz Frankfurt lesen wird, NACH MITTERNACHT von Irmgard Keun ist. Ja, wer wirklich in der Literatur des 20. Jahrhunderts zu Hause ist, kennt Irmgard Keun, aber für zu viele ist sie unbekannt, was auch nicht groß änderte, daß die 1982 gestorbene Keun im letzten Jahr ihren 115ten Geburtstag gefeiert hätte und heute ihren 116..

Mit diesem Roman, der zu großen Teilen in Frankfurt spielt, was ja sicher mit einer der Erfolgspfeiler des Frankfurter Lesefestes FRANKFURT LIEST EIN BUCH ist, hat die Jury einen guten Griff getan. Denn es wird nicht nur eine Schriftstellerin geehrt, die ohne die Verfolgung durch die Nazis eine größere Wirkung hätte entfalten können, sondern diese Verfolgung ist steter Begleiter des Werkes. Der Leser, die Leserin liest also die gesellschaftlichen Verhältnisse, hier die Auswirkungen der NS-Diktatur in den Romanen der Irmgard Keun immer gleich mit. Und dies nicht wie in Leitartikeln großer Zeitungen in der Kommentierung offizieller Politikverlautbarungen eines Staates, sondern im Alltag der Leute. Das ist übrigens genau die Fehlstelle in den Gedanken und Gefühlen von uns Nachgeborenen, daß wir uns letzten Endes nicht erklären können, wie ein ganzes Volk, eine ganze Stadt wie Frankfurt am Main solchen faschistischen Machthabern gefolgt sind. Und keiner kann glauben, daß sie alle dazu gezwungen wurden, wie es gerne die Ausrede in der Nachkriegszeit war.

Diese Grauzone hat sich auch das Schauspiel Frankfurt zu Nutze gemacht, die schon vorab den Roman auf die Bühne brachten, wobei man sich einen Moment lang wundert, sonst heißt es ja vom Roman auf die Leinwand, und natürlich wäre gerade NACH MITTERNACHT ideal gewesen, in den 50er Jahren, als der Heimatfilm im prosperierenden Westdeutschland blühte, in einer Verfilmung den Alltag im Dritten Reich, die Bespitzelung und Ausspähung der anderen von den einen und das Verfolgtwerden von den anderen sinnlich wahrnehmbar zu erleben. NACH MITTERNACHT ist dann aber später, 1981 Berlin, nach ihrer ersten  Wiederentdeckung, tatsächlich verfilmt worden unter der Regie von Wolf Gremm, der auch das Drehbuch mitschrieb. Darsteller sind Désirée Nosbusch, Wolfgang Jörg, Nicole Heesters, Hermann Lause und Irmgard Keun selbst. 

Dies im Roman virulente Denunziationsklima, die Angst, daß die eigene Meinung bekannt wird und zum Eingesperrtsein und Schlimmeren führt, kann auch die Bühne gut vermitteln.

Eine Buchbesprechung folgt, wenn die Termine im Mai näher gerückt sind. Aber schon heute kann man auf zwei Besonderheiten aufmerksam machen. Dem Erzählton darf man nicht auf den Leim gehen. Irmgard Keun versteht es wirklich meisterlich, uns an ein etwas naives und vom Leben erst einmal schlecht behandeltes jungen Mädchen glauben zu lassen, die den Sprung wagt und sich aus liebloser Umgebung in eine bessere Welt absetzt. Diese bessere Welt ist Frankfurt, wo sie zwar individuell besser dran ist, auch wenn die familiären Fallstricke sie einengen, wo sie aber gleichzeitig in die Nazi-Verseuchung ungewollt eintauchen muß, einfach, weil diese überall sind.

Und wenn schlimme Verhältnisse im Ton einer leicht Naiven erzählt werden, neigen manche zum Überlesen, soll heißen, in den Details steckt der Teufel und man muß dieses Buch Wort für Wort lesen, so geschickt ist es durchkomponiert. Und an vielen Stellen verweilt man, weil die sprachlichen Wendungen, wie zufällig gesetzt, einen Doppelsinn ergeben. Sie ist einfach eine richtig gute Schriftstellerin, diese Irmgard Keun und Frankfurt darf sich auf das Lesefest mit ihr und NACH MITTERNACHT freuen.

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Info:
Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Roman, Claassen 2022
ISBN
978 3 546 10034 2