Drucken
Kategorie: Bücher

Thomas Manns Rezeption einiger Versdramen Gerhart Hauptmanns

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 6. Juni 2014 gedenken wir des 68. Todestags Gerhart Hauptmanns sowie des 139. Geburtstags Thomas Manns – eine gute Gelegenheit, sich einem weniger bekannten Aspekt im Verhältnis dieses ungleichen Dioskurenpaars zuzuwenden.

 

 

Es kann nicht geleugnet werden: So sehr er sich auch in seinen öffentlichen Stellungnahmen redlich darum bemühte, dem Werk Gerhart Hauptmanns gerecht zu werden, und so oft er auch die Faszination bekundete, die die Persönlichkeit des Älteren nicht nur auf ihn ausübte – im Grunde blieb Thomas Mann vieles am Werk seines schlesischen Autorenkollegen fremd. Die anfängliche, wohl auch durch den älteren Bruder Heinrich mitinitiierte pauschale Ablehnung Hauptmanns und anderer deutscher Naturalisten, die er angesichts der Vertreter der zeitgenössischen französischen und russischen Romankunst, des skandinavischen Theaters sowie der verschiedenen ästhetizistischen Strömungen der europäischen Literatur des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts als „provinziell“ ablehnte – eine Ablehnung, die wohl auch als Geste des Selbstschutzes gegenüber der von ihm als allzu drastisch empfundenen Wirklichkeitswiedergabe sowie der politischen Implikationen in den „Webern“ und anderen sozialkritischen Frühdramen Hauptmanns interpretierbar sein dürfte – hatte er zwar schon längst überwunden, als er im Oktober 1903 im Berliner Domizil ihres gemeinsamen Verlegers Samuel Fischer die persönliche Bekanntschaft des Älteren machte – ein Erlebnis, das er in einem Brief an Fischer als ein solches „ersten Ranges“ (1) bezeichnete – , aber gerade die soziale Komponente in Hauptmanns Werk sollte für ihn einen beständigen Stein des Anstoßes darstellen.

 

Ihm, für den im Zuge seines anfangs noch zögerlichen, dafür aber stetigen und immer entschiedener werdenden Engagements für die junge Weimarer Demokratie Gerhart Hauptmann als Repräsentant, als „König der Republik“ (2) immer größere Bedeutung gewann, waren dessen gesellschaftskritisch ausgerichtete Dramen, deren theatralische Qualitäten er allerdings niemals anzweifelte, vorwiegend aufgrund ihrer politischen Bedeutung in Reden und Aufsätzen während der 20er und frühen 30er Jahre und dann wieder nach Hauptmanns Tod von Interesse.

 

Stets ließ er in seinen Äußerungen eine unüberhörbare Form von aristokratischer Reserviertheit zwischen den Zeilen durchschimmern, wenn es darum ging, seinem Publikum die Demokratie oder Kunstwerke, deren Gehalt er als demokratischem Geiste verpflichtet oder zumindest korrespondierend darzustellen bemüht war, durch eine besondere Wendung ins Ästhetische und ins Metaphysische näher zu bringen, wie an dieser Stelle durch den in den Jahren des kalifornischen Exils getanen öffentlichen Ausspruch belegt sein mag, Demokratie bedeute für ihn, daß ein Beethoven „Seid umschlungen, Millionen“ sänge, nicht aber, daß ein Mr. Smith oder ein Little Mr. Johnson einem Beethoven „How are you, old man!“ (3) rufend auf die Schulter schlügen, was Taktlosigkeit und Mangel an Sinn für Distanz verriete.

 

Gerade an seinen öffentlichen Äußerungen über Gerhart Hauptmann wird dieses quasi „selbsttherapeutisch“ zu nennende Bestreben ersichtlich, sich Dinge, die ihm weniger lagen, deren objektive Bedeutung indes für ihn außer Frage stand, durch solche Wendungen schmackhaft zu machen und sich ihnen so zu öffnen.

 

Das bloß soziale Leid erschien ihm – und wer wollte es ihm ernstlich verdenken? – als unerträglich, gerade im Kunstwerk. Da er jedoch schon früh erkannt hatte, daß Hauptmann eben kein platter Realist im Sinne einer bloßen Reproduktionstätigkeit an der deprimierenden Wirklichkeit war, sondern in seinen Werken zugleich auch deren Überwindung mitzugestalten wußte, war es ihm ohne weiteres möglich, ihn schließlich doch noch vor allem als Künstler zu würdigen, im „Fuhrmann Henschel“ eine „attische Tragödie“ (4) – freilich eine „im rauhen Gewand volkstümlich-realistischer Gegenwart“ (5) verborgene – und im „Das Mädel... was muß die gelitten han!“ (6) August Keils am Ende der „Rose Bernd“ eine Bezugnahme auf das Leiden an sich zu erkennen.

 

Gewiß befleißigte er sich auch gelegentlich einer mehr polemischen Vereinnahmung Hauptmanns. Liest man seine Wertung Ernst Tollers, der ihm von allen expressionistischen Dramatikern, die ihm alle im Vergleich zu Ibsen, Strindberg, Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, Bahr und Shaw als zu kalt erschienen, noch der menschlichste dünkte – ihm, dem, im Sinne seines „Tonio Kröger“, in der Kunst das starke Gefühl nichts bedeutete! – , dessen Künstlertum indes weit hinter seiner Menschlichkeit zurückgeblieben sei und dessen „Maschinenstürmer“ eine „recht schwache Nachahmung“ (7) der Hauptmannschen „Weber“ darstellten, so entsteht leicht der Eindruck, daß er sich hier des Werks des Älteren lediglich bediente, um einer verhaßten Gegenwart und deren literarischen Repräsentanten adäquat die Stirn bieten zu können.

 

Doch sollte angesichts solcher Vorgehensweisen nicht vergessen werden, daß Thomas Manns Anteilnahme am Werk des Älteren sich nicht so konstant sein ganzes Leben lang gehalten hätte, wenn sie allein aus kulturellem Opportunismus oder aus taktischen Gründen zu erklären gewesen wäre, und nicht aus der konkreten Begeisterung für einzelne Werke, die ihn unmittelbar ansprachen und die ihm als persönlicher Ansatzpunkt dienen konnten, sich auch den Partien des Hauptmannschen Oeuvres zu öffnen, die ihm auch weiterhin bis zu einem gewissen Grade fremd bleiben mußten.

 

Es wird leicht übersehen, daß Thomas Mann vor allen Dingen durch Hauptmanns Schöpfungen auf dem Gebiete des Versdramas zu Äußerungen ausdrücklicher Bewunderung veranlaßt wurde. Die Zeugnisse dieser besonderen Neigung sind nicht allein als Dokumente der privaten Vorlieben Thomas Manns zu betrachten; sie weisen zudem auf die Veränderung seiner persönlichen Einschätzung kultureller und politischer Gegebenheiten hin und beleuchten weitgehend verborgene Verbindungslinien zwischen ihm und Gerhart Hauptmann, welche anhand einiger Beispiele erläutert sein mögen.

 

In seiner Gedenkrede anläßlich Hauptmanns 90. Geburtstag erwähnt er, er habe dem Geehrten einst gestanden, daß ihm „´Der arme Heinrich´, dies Poem von Glanz, Fall und Wiederaufrichtung, unter all dem Seinen am innigsten ans Herz gewachsen sei“ (8) und zitiert die Passage:

 

Wenn einer sagt:

Heinrich, der Herr, er trug sich wie ein Türk,

der seidene Turban saß auf seinem Haupt,

Araberblut war sein milchweißer Hengst,

und klingend unterm Zeichen des Propheten,

umhüpft von güldnen Monden, schritt das Tier:

ihm hat dafür der Gott der Christenheit

das Zeichen von Aleppo angeheftet:

sieh, wer so spräche – löge nicht genug.“ (9)

 

Diese Verse sowie die hier nachfolgend zitierten lassen erkennen, was für ihn die Faszination des Hauptmannschen Heinrichdramas ausmachte: die Neugestaltung einer Sage des deutschen Mittelalters aus dem Geist des Symbolismus und der décadence; der sieche Recke, „ein Herr der Welt“ (10), als Verwandter der Wagnerschen leidenden, um Erlösung ringenden Helden Tannhäuser, Tristan und Amfortas, die von verbotenen Früchten kosteten; eine Dichtung vom Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Geist der Spätromantik, die, ohne epigonal zu wirken, den Wandel des künstlerischen Bewußtseins von den mondbeglänzten Zaubernächten Tiecks und Eichendorffs hin zu den künstlichen Paradiesen Baudelaires nachvollziehbar werden läßt:

 

Vor zween Jahren, Kind,

lag dieser arme Gast, den du hier siehst

am magren Ranft hausbacknen Brotes zehren,

in Marmorhallen, wo die Brunnen klangen,

wo goldene Fische in den Becken flossen,

und wenn er schweifen ließ den trunknen Blick,

so war´s dorthin, woher der Weihrauch quoll,

war´s in die Zaubergärten Azzahras.

Oh, liebes Kind, von solchen Paradiesen

hast du wohl nie geträumt, wo süß und schwer

Pracht auf uns lastet, Wonne uns bedrückt...

der Bambus zittert am verschwiegenen Platz,

von Zedern überdacht und überdunkelt,

die Azaleenbüsche breiten sich

wie blühende Kissen. Blaues Blütenblut

scheint dir das Meer, das Marmorstufen leckt

und Gondeln schaukelt, die von Edelsteinen

und Gold und Purpur blitzen. – Und du hörst

Gesang. Die Sklavin singt: schwermütiges Blühn

auch hier! sie neigt sich zum Zypressenborn

und schöpft in Silbereimern ... fremde Worte,

in heißer Flut der Seele aufgelöst,

umwehen dich. Du trinkst sie in dich ein

mit allen Düften, die der sanfte West

dir zuträgt, immer liebreich dich bedrängend. –

Doch dies beiseite!“ (11)

 

Auch eine andere Gestaltung des Heinrichstoffes, ein paar Jahre älter als die Hauptmannsche, aber aus ähnlicher Geisteshaltung und Gemütslage heraus geschaffen, hatte Thomas Mann einst sehr berührt: das Musikdrama „Der arme Heinrich“ von Hans Pfitzner nach einem Libretto von James Grun. Die „...beispiellose Intimität mit dem christlichen Mittelalter, die in diesem Liede von Qual und Erlösung...“ (12) walte, erstaunte ihn immer wieder aufs Neue. Dennoch äußerte Thomas Mann sich in späteren Jahren nicht mehr öffentlich zu Pfitzner, dessen musikalische Legende „Palestrina“ er in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ enthusiastisch gerühmt hatte. Zu tief saß die Enttäuschung über die Teilnahme Pfitzners an den Protesten gegen seinen Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“ 1933 sowie über die Blindheit des Komponisten gegenüber einer politischen Realität, die das Resultat einer deutsch-romantischen Denkungsart war, welcher die Läuterung durch die Humanität fehlte – eine Blindheit, die noch nach 1945 anhalten sollte.

 

Auch von Gerhart Hauptmann war Thomas Mann enttäuscht, als er von seinem anfänglichen Arrangement mit den braunen Machthabern erfuhr. Diese bis zum Tode Hauptmanns andauernde Enttäuschung schwand jedoch um so schneller, je deutlicher Thomas Mann die wirkliche Lage Hauptmanns und anderer im Dritten Reich zu Bewußtsein gelangte, und so knüpfte er doch wieder rasch persönliche Kontakte zu dessen Hinterbliebenen – obgleich ihm dessen erzählerisches Spätwerk wenig Freude bereitete. Seine Zusage, die Gedenkrede zu Hauptmanns 90. Geburtstag zu halten, sollte er zwar ebenso rasch wieder bereuen, da sich ihm deren Abfassung doch äußerst problematisch gestaltete und kaum ohne die intensive Unterstützung Hans Reisigers zu Stande gekommen wäre, aber das Ergebnis, ein „Werk zweier so bedeutender Köpfe“ (13), wurde mehr als eine routiniert heruntergebetete Festtagsansprache – es wurde ein Kurzessay, das sich würdig den großen Versuchen Thomas Manns anreiht, der nun auch an Hauptmann, nachdem er es in früheren Jahren bei Würdigungen der inneren Musik in seinem Werk belassen hatte, das Geistige, „...die geistgewollten, geistbewirkten vitalen Zuströme, die seiner Natur beschieden waren...“ (14) wahrnahm. Vielleicht war es gerade das ihn so häufig unangenehm berührende Soziale in Hauptmanns Werk, das ihn trotz aller Reserven dem Autor der „Weber“ nun eher vertrauen ließ als dem Schöpfer des „Palestrina“, dessen spezifisch deutsch-romantischer Geistigkeit er sich wohl näher fühlen mochte, die ihm aber nach Auschwitz in vielen Aspekten als obsolet erschienen sein muß. Hauptmanns Werk hingegen schien ihm mehr Gegenwärtiges und mehr Zukünftiges zu bergen.

 

Wiewohl Thomas Mann nicht ohne konkrete Vorstellungen an die Hauptmannrede heranging und in der Tat noch einige Bruchstücke im Hinterkopf parat hatte, die er unbedingt anbringen wollte, weil sie ihm besonders lieb waren – den Schluß des Michael „Kramer“ etwa oder einzelne Verse aus „Hanneles Himmelfahrt“ und „Schluck und Jau“ – , mußte ihm dennoch Reisiger die entscheidende Vorarbeit leisten, ihn mit weiteren passenden Zitaten versorgen, ihm Anekdoten zutragen – so über die Entstehung des „Fuhrmann Henschel“, die Thomas Mann dann kurzerhand den eigenen Erlebnissen einverleibte – und ihm Motive und Entwicklungslinien in Hauptmanns Werk aufzeigen, die ihm, sofern er sie je gewahrt hatte, wohl kaum mehr erinnerlich gewesen sein dürften. So weist er auf die Traummotivik in Hauptmanns Werk und auf verschiedene visionäre Aspekte seines Schaffens hin und empfiehlt diesbezüglich Passagen aus dem „Till Eulenspiegel“ und dem „Großen Traum“. Auch mahnt er, nicht die Bedeutung des Eros in Hauptmanns Werk, gerade in seinen dämonischen Manifestationen, insbesondere in kindhaften Frauengestalten, zu unterschätzen, erwähnt Pippa und Gersuind und legt Thomas Mann folgende Verse aus „Indipohdi“ nahe, in denen Huemac Tehura beschreibt:

 

Sie gleicht der Mondesmutter. Dunkel rollt

die Nacht um ihrer Stirne blasses Licht.

Verwirrend sind die Grübchen ihrer Wangen.

Geschnitten aus dem heiligen Obsidian,

schwarz, so nach außen wie nach innen sehend,

erscheinen ihre Augen.“ (15)

 

Doch Thomas Mann erwähnt weder Gersuind und „Kaiser Karls Geisel“ noch Tehura und „Indipohdi“ in seiner Rede, fügt aber ein Zitat aus des letzteren Sphäre ein, das sich leicht als solches übersehen läßt, weil es vielleicht zu spontan, zu sehr aus dem Augenblick geboren erscheint: Er spricht von dem Werk Gerhart Hauptmanns als dem Werk „des Traumgequälten, des schmerzhaften Dionysiers“ (16). Ein Traumgequälter ist auch Hauptmanns Montezuma, von dem Eberhard Hilscher meinte, er repräsentiere, gleich dem Echnaton in Thomas Manns Josephsromanen, einen für die spätbürgerliche Literatur charakteristischen, „leicht degenerierten Endzeit-Typus“ (17), und dessen Wesen Pater Olmedo im „Weißen Heiland“ so deutet:

 

In der Tat: der Sonnensohn

scheint viel mehr ein Kind des Mondes.

Ob die Sonne noch so heiß brennt

um ihn her, was hilft´s? Er friert.

Magisch scheint ihn anzusaugen

sein vampirisches Gestirne,

dem er wie ein traumgequälter

Schläfer, hin und her sich wälzend,

sich doch nicht entwinden kann.“ (18)

 

Die Nichterwähnung gerade dieser drei Werke erstaunt, selbst wenn man in Erwägung zieht, daß Thomas Mann hier wiederum den gesellschaftlich orientierten Hauptmann oder den Dichter der von ihm (auf Reisigers Empfehlung hin) als Dokument des verkappten Widerstands wie der Resignation gewerteten Atridentetralogie, der er ansonsten wenig abzugewinnen vermochte, in den Mittelpunkt rücken mußte.

 

Als Werke des Abschieds hatten ihn „Kaiser Karls Geisel“ und „Indipohdi“ tief beeindruckt, wie er 1932 in einem Geburtstagsgruß an Gerhart Hauptmann offen bekundete (19). Bezüglich seiner Rezeption des Karlsdramas ließen sich mancherlei Spekulationen anstellen. Die zeitweilige Verfallenheit des mächtigen Frankenkaisers an ein heidnisch-unschuldig anmutendes sächsisches Mädchen erinnert nicht nur, wenngleich entfernt, an Gustav Aschenbachs gedankliche Leidenschaft für einen schönen polnischen Knaben im „Tod in Venedig“ – auch die Person des Kaisers, mit ihrem Stammeln und Stottern, könnte bei vielen Lesern (oder Theaterbesuchern) durchaus den Eindruck erwecken, hier habe man ein frühes dichterisches Selbstportrait Hauptmanns vor sich und eine Figur, die als direkter literarischer Ahne Pieter Peeperkorns aufgefaßt werden darf.

 

Über Thomas Manns Sicht auf den „Weißen Heiland“ und auf „Indipohdi“ wissen wir dank seiner Tagebuchaufzeichnungen mehr. So vermerkt er am 9. Januar 1920 über die Lektüre der ersten beiden Akte von „Indipohdi“ in der „Neuen Rundschau“ des S. Fischer Verlages: „scheint schön und kühn“ (20). Und am Abend des folgenden Tages: „Las abends Hauptmanns ´Indipohdi´ zu Ende, mit Sympathie, auch mit Bewunderung u. vieler Freude an den lyrisch-persönlichen Stellen. Das ´junge Geschlecht´ hat keinen seinesgleichen.“ (21). Gerade sein Kommentar zu „Indipohdi“ ist bezeichnend. Auch hier findet sich der Reflex wider das „junge Geschlecht“, aber dieses Mal, in der intimen Sphäre des Tagebuchs, anders als bei der Gegenüberstellung von „Webern“ und „Maschinenstürmern“ einige Zeit später, ohne jede polemische Ambition, als reiner Ausdruck künstlerischen Entzückens zu interpretieren. Einige Monate später, am 3. April desselben Jahres, liest er den „Weißen Heiland“: „Las in Hauptmanns mexikanischem Stück, das, sehr spanisch, in vierfüßigen Trochäen geschrieben.“ (22)

 

Es ist zu vermuten, daß er sich der Untauglichkeit dieser Stücke bei der Etablierung Hauptmanns als politischer Symbolfigur bewußt war. Die Öffentlichkeit nach beiden Weltkriegen bedurfte zwar erneut des Dichters des Mitleids, doch brauchte sie wiederum vorwiegend den naturalistischen Hauptmann, in dessen Gestaltungen der harten Realität man die eigenen Erfahrungen wiedergespiegelt sehen mochte. Der Versdichter Hauptmann hingegen wurde Opfer eines plakativen Modernitätsbegriffs, der keinerlei Konzessionen gestattete und alles, was ihm rückständig erschien, auf die Müllhalde der Literaturgeschichte verbannte. Über alle persönlichen und politischen Differenzen hinweg offenbaren die Wertungen einiger Versdramen Gerhart Hauptmanns durch Thomas Mann, daß sich der Jüngere grundsätzlicher Ähnlichkeiten ihrer beider Naturen und ihrer Situation innerhalb ihrer Epoche bewußt war. Beide verkörperten sie einen Autorentypus des absterbenden bürgerlichen Zeitalters, dessen Exponenten noch einmal die Rolle des dichterischen Repräsentanten durchzuspielen vermochten, dabei aber stets gewahr bleiben mußten, daß sie als Letzte in eine Zeit hineinragten, die schon lange nicht mehr die ihre war und deren offiziellen Forderungen das Streben nach ästhetischer Autonomie immer mehr zuwiderlief, deren Widersprüche sich aber gleichwohl angemessen im Kunstwerk zum Ausdruck bringen ließen, selbst wenn man seine Formung traditionell und seine Blickrichtung rückwärtsgewandt nennen sollte – eine weitere Berührungsfläche der beiden „großen bürgerlichen Humanisten Gerhart Hauptmann und Thomas Mann.“ (23)

 

Anmerkungen

 

(1) zitiert nach: Wenzel, Georg: „Gefährdete Brüderschaft. Gerhart Hauptmann im Licht der Notiz- und Tagebücher Thomas Manns“ in: SCHLESIEN 2/1996 (Jahrgang XLI), S. 79

(2) Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974, Bd. XI, S. 812

(3) Thomas Mann: GW, Bd. XII, S. 933

(4) Thomas Mann: GW, Bd. IX, S. 807

(5) Ebenda

(6) Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, herausgegeben von Hans-Egon Hass, fortgeführt von Martin Machatzke und Wolfgang Bungies, 11 Bände, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1962 – 1974 (Centenarausgabe). Bd. II, S. 259

(7) Thomas Mann: GW, Bd. XIII, S. 289

(8) Thomas Mann: GW, Bd. IX, S. 809

(9) Gerhart Hauptmann: CA, Bd. II, S. 113

(10) Thomas Mann: GW, Bd. IX, S. 808 bzw. Richard Wagner: Die Musikdramen. Hamburg 1971, S. 327

(11) Gerhart Hauptmann: CA, Bd. II, S. 93

(12) Thomas Mann: GW, Bd. X, S. 420

(13) Wysling, Hans / Bernini, Cornelia (hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Gerhart Hauptmann . “Mit Hauptmann verband mich eine Art von Freundschaft”. Teil II: Briefe 1925 – 1935, Dokumentation und Verzeichnisse. In: Heftrich, Eckhard / Sprecher, Thomas (hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch Band 7 (1994), Frankfurt am Main 1995, S. 256

(14) Thomas Mann: GW, Bd. IX, S. 805

(15) Gerhart Hauptmann: CA, Bd. II, S. 1346

(16) Thomas Mann: GW, Bd. IX, S. 815

(17) Hilscher, Eberhard: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Frankfurt am Main 1988. Lizenzausgabe der DDR-Ausgabe Berlin 1987. S. 316

(18) Gerhart Hauptmann: CA, Bd. II, S. 1231/1232

(19) Thomas Mann: GW, Bd. X, S. 338

(20) Thomas Mann: Tagebücher Band 1: 1918 – 1921, S. 362

(21) Thomas Mann: Tagebücher Band 1: 1918 – 1921, S. 363

(22) Thomas Mann: Tagebücher Band 1: 1918 – 1921, S. 413

(23) Tschörtner, H. D. : Ungeheures erhofft. Zu Gerhart Hauptmann – Werk und Wirkung. Berlin 1986, S. 255

 

 

LITERATURVERZEICHNIS

 

1. Primärtexte:

ADORNO, Theoder W. /MANN, Thomas: Briefwechsel 1943 – 1955, herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2002

HAUPTMANN, Gerhart: Sämtliche Werke, herausgegeben von Hans-Egon Hass, fortgeführt von Martin Machatzke und Wolfgang Bungies, 11 Bände. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1962 – 1974 (Centenarausgabe)

HESSE, Hermann – MANN, Thomas: Briefwechsel, herausgegeben von Anni Carlsson und Volker Michels. Dritte, erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1999

MANN, Thomas: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974

MANN, Thomas: Selbstkommentare: „Joseph und seine Brüder“, herausgegeben von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer. Frankfurt am Main 1999

MANN, Thomas: Tagebücher Bd. I – X, ursprünglich herausgegeben von Peter de Mendelssohn, Edition fortgeführt von Inge und Walter Jens. Sonderausgabe Frankfurt am Main 1997

WAGNER, Richard: Die Musikdramen. Hamburg 1971

 

2. Sekundärliteratur:

HILSCHER, Eberhard: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Frankfurt am Main 1988. Lizenzausgabe der DDR-Ausgabe Berlin 1987

SCHRÖTER, Klaus: Thomas Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1964

SPRENGEL, Peter: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982

TSCHÖRTNER: H. D. : Unaufhörlich bläst das Meer. Neue Hauptmann-Studien. Würzburg 1996

TSCHÖRTNER: H. D. : Ungeheures erhofft. Zu Gerhart Hauptmann – Werk und Wirkung. Berlin 1986

WENZEL, Georg: Gefährdete Brüderschaft. Gerhart Hauptmann im Licht der Notiz- und Tagebücher Thomas Manns. In: SCHLESIEN 2/1996 (Jahrgang XLI), S. 79 – 88

WYSLING, Hans / BERNINI, Cornelia (hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Gerhart Hauptmann. „Mit Hauptmann verband mich eine Art von Freundschaft”. Teil II: Briefe 1925 – 1935, Dokumentation und Verzeichnisse. In: HEFTRICH, Eckhard / SPRECHER, Thomas (hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch, Band 7 (1994). Frankfurt am Main 1995, S. 205 – 292

 

INFO:

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text stellt eine schriftliche Ausarbeitung des am 15. 11. 2003, Gerhart Hauptmanns 141. Geburtstag, im Rahmen der literarischen Abendveranstaltung der Jahreshauptversammlung der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft, e. V. Berlin, in Erkner gehaltenen Vortrags „Über die obskuren Aspekte der Hauptmannrezeption Thomas Manns“ von Alexander Martin Pfleger dar. Eine kürzere Fassung hiervon erschien bereits 2004 in den Gerhart-Hauptmann-Blättern (Alexander Martin Pfleger: "Thomas Manns Rezeption von Versdramen Gerhart Hauptmanns" In: Gerhart-Hauptmann-Blätter, Jahrgang VI (2004), Heft I, S. 4 – 8). Wir danken dem Autor für die Genehmigung, diese bislang unveröffentlichte längere Version hiermit erstmals einer größeren literarisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen zu können und zu dürfen.