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Kategorie: Bücher

Nur Raus hier! 18 GESCHICHTEN VON DER FLUCHT AUS DER DDR - 18 GESCHICHTEN GEGEN DAS VERGESSEN aus dem Ankerherz Verlag, Teil 2/2

 

Helmut Marrat

 

Weltexpresso (Hamburg) – Die Mauer, das ist klar, hat den Bestand der DDR für viele Jahre befördert. Ansonsten wäre dieses Staatsgebilde schon Mitte der 1960er Jahr ausgeblutet gewesen. Täglich verließen ja Menschen die Ostzone, meist über Berlin, wo man mit der S-Bahn in die Westsektoren hinüberfahren konnte.

 

Der Mauerbau und die hermetische Abriegelung des DDR-Gebietes verhinderte dies; - so lange, bis die Ungarn im Sommer 1989 die käfigartigen Grenzanlagen mit Signalzaun, Stacheldraht und Todesstreifen abbauten. Der Flüchtlingsstrom aus der DDR setzte im Sommer 1989 wieder ein, so wie er im einem Sommer 28 Jahre zuvor unterbunden worden war. Es waren ja fast immer die jungen und wagemutigen Menschen, die in den Westen aufbrachen. Die Zukunft des Landes. Als Gorbatschow sich weigerte, die russischen Panzer gegen die Massen einzusetzen, war das Schicksal der Diktatur der SED besiegelt.

 

Ansätze dazu gab es schon mehrere Jahre zuvor. Henry Leuschner (*1962), ein Künstler, wollte über die Grenze von Thüringen nach Bayern zusammen mit einem Kumpel fliehen. Sie gerieten in den Todesstreifen. Von Selbstschußanlagen getroffen, blieb Leuschner in seinem Blut liegen, bis er von den Grenzsoldaten aufgegriffen wurde. Bei seinen Verhören erfuhr er, daß es gar nicht die Grenze nach Bayern, sondern in die Tschechoslowakei gewesen war, an der ihre Flucht gescheitert war. Selbdt da, - so schoß es ihm durch den Kopf -, zu einem angeblich befreundeten Ost-Staat hin, gab es Todesstreifen und Selbstschußanlagen!

 

Nach seiner Haftstrafe wurde er entlassen – in die DDR. Das war deprimierend, nicht oder zumindest noch nicht von West-Deutschland freigekauft worden zu sein. Mit Gleichgesinnten ersann er in Jena den "weißen Kreis". Junge Leute trafen sich da auf einem öffentlichen Platz; stellten sich locker nah beieinander auf; und alle von ihnen trugen ein weißes T-Shirt. Am ersten Sonnabend waren sie nur ein Dutzend Leute; und sie standen nie viel länger als eine halbe Stunde dort. Aber es sprach sich herum. Eine Woche später waren es schon doppelt so viele. Das setzte sich fort, bis 200 "Weiße" dort zusammenkamen. Wenn man so will, war das eine Vorwegnahme der Montagsdemonstrationen von 1989. Bald erschienen Fotos davon in einer westdeutschen Zeitung. Das war eine Art Rückendeckung. Sie wußten: Eine so große Menge Menschen konnte die Stasi nicht einfach verhaften. Aber Einzelne wurden herausgegriffen, obwohl die Taxifahrer jeweils Hupsignale gaben, wenn die Staatsmacht sich näherte.

 

Nach und nach nahm die Zahl der solcherart Demonstrierenden ab. Warum? Die DDR bestätigte deren Ausreise-Anträge nun so schnell wie möglich, um diese Störenfriede der DDR-Ordnung loszuwerden. - 40.000 DM erhielt die DDR durchschnittlich für jeden Häftling, der von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft wurde. Ein gutes Geschäft. 33.775 politische Häftlinge wurden vom Westen freigekauft. 1,351 Milliarden DM sind das gewesen. Aus heutiger – griechischer – Sicht eine lächerliche Summe. Damals ein gigantisches Vermögen, das den Staat DDR, der an Westdeutschland nicht unwesentlich verschuldet war, jedenfalls länger leben ließ; vielleicht gerade so lange, bis Gorbatschow sich mit seiner "Sinatra-Doktrin", der gemäß jeder "seinen eigenen Weg" gehen sollte, durchsetzen konnte.

 

Das Buch besteht aus drei oder eigentlich sogar vier Teilen: Es beginnt mit einigen eindrucksvollen Fotos von Andree Kaiser (*1964), der auch der Herausgeber dieses Buches gegen das Vergessen ist und selbst in dem berüchtigten DDR-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, das sich übrigens in keinem Stadtplan der DDR fand, drei Jahre gefangen saß. Nur einen Vorteil gewährte ihm seine Haft: Daß er die Psychologie der Bewacher einschätzen lernte. Als er 1992 mit einem Kollegen nach Banja Luka reist, um sich dort von der Existenz eines serbischen Tötungslagers gegen die kroatischen Freiheitsbestrebungen zu überzeugen, will der Bürgermeister, der die Existenz dieses Lagers als Tötungsmaschine leugnet, ihn und seinen Kollegen im Sinne seiner eigenen Propaganda nutzen.

 

Alles scheint ordentlich und friedlich zu sein, doch Kaiser spürt, daß etwas nicht stimmt. Bald bemerkt er, wie man im Hintergrund Männer auf brutale Weise mit Knüppeln von LKWs in Baracken treibt. Und er sieht noch mehr. Wie aber das fotografieren, ohne die Wachsoldaten gegen sich aufzubringen und sich und seinen Kollegen damit selbst zu gefährden. Hier kommt ihm seine jahrelange Hafterfahrung zu nutze. Er hat gelernt, sich unsichtbar zu machen. Und liefert so den ersten Beweise für diese serbischen Tötungslager, die bald die Weltöffentlichkeit auf den Plan bringen. Sein Kollege und er erhalten für ihre Reportage den Pulitzer-Preis. Vor allem aber, so meint Andree Kaiser, habe diese Reportage vermutlich vielen Menschen das Leben gerettet!

 

"Sehnsucht", "Wut" und "Freiheit" sind die drei Abschnitte des Buches überschrieben. Dazwischen gibt es Doppelseiten mit Zeichnungen der Grenzanalgen und entsprechenden Daten: Wie lang die Grenze war, wie viele Wachtürme sie hatte, wie viele Hunde, Wachsoldaten, Stacheldrahtverhaue, Selbstschußanlagen, Gitterzäune; wie viele Menschen an ihr den Tod fanden; wie viele freigekauft wurden; wie vielen die Flucht in die Freiheit gelang: Über den Todesstreifen, über die Ostsee, über Nachbarländer.

 

Und in jedem der so überschriebenen Teile werden sechs gelungene oder gescheiterte Fluchten und Freikäufe geschildert. Dabei könnten diese jeweils sechs Portraits auch ausgetauscht sein. Es gibt keine Zunahme. Es ist ein gleichbleibender Freiheitsdrang.

 

Mitunter kommt den Häftlingen auch gerade das nützlich zustatten, was als besonders demütigende Schikane durch das Wachpersonal gedacht war. So wird Gerd Zimmermann (*1952), nach der Freilassung in den Westen einer der bedeutendsten TV-Produzenten werden, der jetzt abwechselnd in Los Angeles und Berlin lebt, weil er gegen das Verbot auch tagsüber einmal auf seiner Pritsche gelegen hat, dazu verdonnert wird, das Treppenhaus bis in den tiefsten Keller hinein zu schrubben. Unten aber hört er eine Stimme aus einer Zelle. Ein Eingesperrter bittet um ein Stück Papier, weil er etwas aufschreiben wolle. Er gibt Zimmermann den Hinweis, wo er das Papier und den Bleistift verstecken solle, nämlich in einem Luftabzugsrohr in den Großraumduschen. So geschieht es. Und auf diese Weise entsteht eine Gefängniszeitung, die von Zelle zu Zelle kursiert und die Ungerechtigkeiten der Haft ansprach. Jeder kannte jeweils nur ihren Vorbesitzer. Wenn die Zeitungsfetzen zu Zimmermann zurückkamen, nähte er sie in sein Kopfkissen ein. Bei seiner Entlassung wickelte er sie eng in Kunststoff-Folie ein, beschmierte sie mit extra aufgesparter Margarine und führte es sich ein. Auf diese Weise schmuggelte er diese geistige Ware in den Westen.

 

Auch Zimmermann war freigekauft worden, und wie in allen diesen Verfahren war der DDR-Rechtsanwalt Vogel (1925 – 2008) der Unterhändler gewesen. Der Bus, mit dem die Häftlinge, - alle noch gespannt und letztlich noch ungewiß, ob sie wirklich in den Westen und nicht doch in ein neues DDR-Zuchthaus gebracht würden - kamen, drehte an der Grenze sein Nummernschild einmal um, wie man es sonst aus James-Bond-Filmen kannte, und aus dem "I" für Berlin wurde ein "KS" für Kassel, bevor es dann in das Notaufnahmelager Gießen ging.

 

Alle diese Menschen-Schicksale zur Freiheit hin sind sehr lesenswert. Es gut gemachtes Buch, das das Unrecht dieser zweiten Diktatur auf deutschem Boden noch einmal wirkungsvoll ins Gedächtnis zurückruft, damit ein solches sich nicht wieder hier ereigne!

 

Foto:

Andree Kaiser

 

Info:

NUR RAUS HIER1!, Hrsg. und Fotografien von Andree Kaiser, geschrieben von Bickmeyer, Brenner & Kruecken, Ankerherz Verlag 2015