Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 9
Felicitas Schubert und Gerhard Wiedemann
London (Weltexpresso) – Ein toller Trick, mit dem Dickens den Jungen in die Irre über seinen Wohltäter und Financier führt und uns gleich mit. Denn zu der blutleeren Miss Havisham paßt ein solches Verhalten gar nicht, wohl aber zu den Phantasien eine jungen und verliebten Knaben. Wer der Wohltäter wirklich ist, wollen wir hier nicht verraten, aber von den insgesamt 14 namentlich aufgeführten und vielen weiteren Sprechern müssen wir dringend zwei weitere Handlungsträger des Romans vorstellen.
Der Roman beginnt mit einer unheimlichen Szene auf dem Friedhof, wo ein – wie er später erkennt – entlaufener Zuchthäusler das Kind Pip mit Androhung von Gewalt erpreßt, ihm sein Essen zu geben und eine Feile für die Beseitigung des Eisenrings zu besorgen. Diesen Gewalttäter namens Magwitch, der uns später noch einmal sehr friedfertig und alterweise begegnet, spricht Hans Helmut Dickow. Wichtig für seine Entwicklung ist auch sein Freund Herbert, Sprecher istStephan Schwartz, dem er nicht nur existentiell hilft, sondern an dessen Umgang mit ihm wir merken, wie sehr Pip schon im Inneren der Gentlemen ist, zu dem er erst erzogen werden soll.
So haben wir an den sprechenden Personen den Handlungsverlauf schon vorgegeben. Zusammengefaßt: Pip verliert Vater, später die Mutter. Da erhält er in bitterster Armut das Angebot eines reichen unbekannten Gönners, der ihm ein Vermögen zusagt und die Ausbildung zum Gentlemen. Pip lebt durchaus in Saus und Braus zusammen mit Freund Herbert, dem er heimlich zu einer luxuriösen Stellung verhilft, die er bezahlt. Die einzige Fehlstelle ist die Liebe, denn diejenige, die ihn liebt, ist, als er es merkt, nicht mehr zu haben, und die, die er vergeblich so lange liebte, muß ihre Gefühlskälte bitter bezahlen.
Dieses Spätwerk vereint alle Topoi und Personen der bisherigen Romane – und auch die des Lebens von Charles Dickens. Denn im öffentlichen Ansehen ein Gentleman zu werden, war auch dessen Lebensziel, das er professionell mit seiner Schriftstellerei anging. Gleichzeitig dreht er in seinen Romanen seinem eigenen Lebensziel eine Nase. Denn ‚gentlemanlike’ ist eine Haltung, die man als guter-Mensch-Sein übertragen könnte. Und das nun wiederum ist eine Herzensbildung, die man hat oder nicht hat und die das Leben, das man erfährt, verstärken oder vermindern kann. So kommt es, daß die tragische Komponente, die die ‚Entlarvung’ seines Gönners für Pip bedeutet, gleichzeitig seinen menschlichen Reifungsprozeß fördert und Pips Gentlemanerziehung den letzten, ethischen Schliff gibt.
Wichtig scheint uns bei diesem Roman in Hörspielfassung mit drei CDs der Hinweis auf die psychologisch gut nachvollziehbaren Charaktere aller Personen in GROSSE ERWARTUNGEN. Da eigentlich alle Romane Dickens Entwicklungsromane im bürgerlichen Sinne sind, wo wie im klassischen Bildungsroman vom Kind über den Jugendlichen bis zum seiner selbst bewußt gewordenen Erwachsenen immer stärker das Ich die Rolle übernimmt, das eigene Leben zu gestalten, sind diese auch immer Emanzipationsromane aus dem nicht selbstverschuldeten Unglück des Menschengeschlechtes. Entscheidet sich der Protagonist allerdings nicht für das eigene Leben, gibt es keinen glücklichen Ausgang.
Charles Dickens, Die großen Hörspieleditionen. Große Erwartungen. David Copperfield. Oliver Twist, 9 CDs im Der Hörverlag, November 2011
www.hoerverlag.de
Info:
Ausstellung in London bis 10. Juni 2012
Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.
Wir stützen uns auf unsere 15 teilige Winkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in diese Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.
Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert, CHARLES DICKENS. DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.
William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.
Die bisherige Serie Charles Dickens
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/673-hans-dieter-gelferts-charles-dickens-der-unnachahmliche-aus-dem-c-h-beck-verlag
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/674-neuentdeckte-meistererzaehlungen-der-schwarze-schleier-im-aufbau-verlag
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