Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs gegen eine jahrzehntelange Vergütungspraxis bei Zweitverwertungen wachsen Verunsicherung und Angst

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Urheberrechtsabgaben gehören den Urhebern. Urheber sind die Autoren, nicht die Verlage. Diese höchstrichterliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs gegen die Praxis der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) beunruhigt seit dem 21. April dieses Jahres die Verlage, allen voran die kleinen und mittleren.

 

Sie befürchten Rückzahlungen in Millionenhöhe; denn das Urteil verpflichtet die VG Wort zu einer Rückabwicklung. Das würde für viele das wirtschaftliche Aus bedeuten. Und folglich eine Verödung der Literatur.

Die VG Wort, ein Zusammenschluss von Verlagen und Autoren, die 1958 auf Initiative des Verbands deutscher Schriftsteller gegründet wurde, sorgte für die Verteilung unter den registrierten Autoren und Verlagen nach einem komplexen Schlüssel. Hierbei geht es um pauschal erhobene Tantiemen aus Zweitverwertungen wie der Kopiergerätevergütung, der Ausleihgebühr für öffentliche Bibliotheken oder den Lizenzzahlungen des Rundfunks. Seit dem Jahr 2008 belaufen sich die Einnahmen auf ca. 118 Millionen Euro jährlich; die Ausschüttungen liegen zwischen 106 bis 90 Millionen Euro. Aus der verbleibenden Differenz speist sich die Verwaltung der VG Wort, außerdem werden Zahlungen an die Künstlersozialkasse geleistet. Da die Tantiemen der Umsatzsteuer unterliegen, ist auch der Staat beteiligt.

Ein Jurist und Autor mehrerer Fachbücher, Martin Vogel, hatte gegen diese Verfahrensweise geklagt. Und er begründete das mit der „Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“. In deren Artikel 2 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten: a) für die Urheber in Bezug auf ihre Werke.“
In den anschließenden Absätzen b) bis e) werden dann darstellende Künstler, Tonträgerhersteller, Hersteller erstmaliger filmischer Aufzeichnungen und Sendeunternehmen erwähnt.

Die Mitgliedsländer der Europäischen Union wurden mit dieser Richtlinie aufgefordert, sie unverzüglich in nationales Recht umzusetzen. Das war vor 15 Jahren.

Ich mutmaße, dass zumindest die damaligen deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments keine Ahnung hatten von der bewährten und in der Branche weithin akzeptierten Praxis der VG Wort. Und auch in der damaligen Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer hat offensichtlich keiner gemerkt, welche Zeitbombe in Brüssel produziert wurde. Mutmaßlich hat es niemanden interessiert. Es ging ja lediglich um die Nebensache Kultur, die etwas mit Denken, Lesen und Schreiben zu tun. Und diese Fertigkeiten scheut der durchschnittliche Politiker bekanntlich wie Satan das Weihwasser.

Nachdem der Europäische Gerichtshof in einem Rechtstreit um Kopien gegen die belgische Verwertungsgesellschaft „Reprobel“ im vergangenen Herbst entschieden hatte, dass in der zitierten Richtlinie keine Ansprüche für Verlage vorgesehen sind, konnte der Bundesgerichtshof in dem von Martin Vogel angestrengten Verfahren nicht anders entscheiden.

Formalrechtlich könnten sich Verlage und Autoren auf neue Verträge verständigen, welche die Einnahmen, die den Autoren zustehen, mit faktisch vorhandenen Kosten der Verlage für das so genannte In-den-Verkehr-bringen verrechnen ließen. Aber das würde nur die Zukunft betreffen. Hätten die Abgeordneten des EU-Parlaments und die Regierungen nicht geschlafen, wäre das auch bereits bei der Umsetzung der EU-Richtlinie möglich gewesen.

Fazit: Die Vernichter unserer Kultur sitzen in unseren Parlamenten und in unseren Regierungen. Sie müssen die Adressaten unserer Proteste sein. Denn nur durch eine Änderung in den EU-Verträgen und in den EU-Richtlinien sind solche objektiv skandalösen Fehlentscheidungen zu revidieren. Die nächste Fallgrube, in die uns EU-Kommission und EU-Parlament mit freundlicher Unterstützung der Bundesregierung treiben, heißt TTIP!