Rainer Hackels „Begegnungen mit Gertrud Fussenegger“

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In den gut siebeneinhalb Jahren, die seit ihrem Tod verstrichen sind, geriet das Werk Gertrud Fusseneggers, einer „der wenigen letzten deutschsprachigen Erzählerinnen von europäischem Rang“ (Klappentext zu: Rainer Hackel: Gertrud Fussenegger. Ein Gespräch über ihr Leben und Werk mit Rainer Hackel), etwas aus dem Blickfeld des allgemeinen literarischen Interesses.

Eine ideale Möglichkeit, die Autorin, deren eigentliche Wirkungsgeschichte laut Dieter Borchmeyer erst der Zukunft angehört, wieder- oder überhaupt erst zu entdecken, stellt das neue Buch von Rainer Hackel dar.

Bereits 2005 hatte Hackel ein Buch über oder besser gesagt – gemeinsam mit Gertrud Fussenegger veröffentlicht: Einen Gesprächsband, der bald schon in den Rang eines Standardwerks erhoben wurde. Trotz ihrer großen Bekanntheit wurde der Autorin bei Lebzeiten nur selten das Interesse der Literaturwissenschaft zuteil. Dieses Buch bot nicht nur einen umfassenden Einblick in ihre Gedankenwelt sowie einen dementsprechenden Überblick über ihr Leben und Werk, sondern vermittelte überdies Grundsätzliches zum Verständnis der Situation der Intellektuellen im 20. Jahrhundert mit all´ seinen ideologischen Wirren – „eine Kette fortgesetzter Prüfungen, für die niemand im voraus vorbereitet sein konnte.“ (Manès Sperber in einem Brief an Gertrud Fussenegger vom 28. 12. 1977; zitiert nach Dieter Borchmeyers Vorwort zu: Rainer Hackel: Gertrud Fussenegger. Das erzählerische Werk, S. 13)

2009 erschien Hackels von Dieter Borchmeyer betreute Doktorarbeit „Gertrud Fussenegger. Das erzählerische Werk“, worin der Verfasser die Auseinandersetzung mit dem auf Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit abzielenden Menschenbild der Aufklärung und den damit verbundenen Schwierigkeiten als Kernthema der Fusseneggerschen Epik  definiert: Allzu häufig läge es nicht in der Macht des Einzelnen, die angestrebte selbstbestimmte Lebensführung zu erlangen; vielmehr erweise er sich nur allzu oft als fremdbestimmt und ginge somit zahlreicher Möglichkeiten, die sich ihm böten, verlustig: „Das bürgerliche Individuum ist nicht Herr im eigenen Haus.“ (Hackel, Das erzählerische Werk, S. 371).

Gertrud Fusseneggers literarische Technik wird hierbei einerseits durch das Festhalten an traditionellen Erzählformen, insbesondere des europäischen Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts, das nicht mit unreflektiertem Traditionalismus verwechselt werden dürfe, andererseits durch den Einsatz moderner Stilmittel charakterisiert, welche der Fragilität des modernen Bewußtseins entsprächen und nicht als dem modernistischen Zeitgeschmack geschuldet angesehen werden sollten – alles in ihrem Werk verfüge über eine klar definierte Funktion, nichts sei Selbstzweck: „Die Souveränität und Virtuosität, mit der Gertrud Fussenegger die erzählerischen Mittel und Formen verwendet, um die Atmosphäre einer historischen Epoche zu beschwören und die Lebenskrisen ihrer Figuren glaubwürdig zu vermitteln, machen ihre Modernität aus.“ (Hackel, Das erzählerische Werk, S. 373).

In seinem neuesten Buch nun führt uns Hackel zunächst zu den Anfängen seiner Beschäftigung mit Gertrud Fussenegger zurück. Er schildert uns die ersten Lektüreeindrücke, die ihr Werk bei ihm hinterließen, und seine allmählich sich steigernde Hinwendung zu ihren Romanen und Erzählungen, deren Faszinosum für ihn in ihrer spezifischen Darstellung der Brüchigkeit der bürgerlichen Scheinwelt und deren verpaßter Chancen begründet liegt; er berichtet von den ersten persönlichen Begegnungen am Rande ihrer Lesungen und dem aufkeimenden Entschluß, sowohl eine Doktorarbeit über sie zu schreiben, als auch ein „Gespräch über ihr Leben und Werk“ mit ihr zu führen und als gemeinsames Buchprojekt herauszubringen.

Die Darstellung seiner Besuche bei und seiner Gespräche mit Gertrud Fussenegger in Hall und in Leonding in den Jahren 2003 und 2004, auf denen zum größten Teil das Buch von 2005 beruht, nehmen den weitesten Umfang im Rahmen des vorliegenden Bandes ein.

Gertrud Fussenegger erweist sich im Gespräch als eine bis zuletzt geistig rege, gegenüber allem aufgeschlossene und an allem Anteil nehmende, dabei aber niemals den eigenen Standpunkt verratende Frau, die ohne programmatische Vorgaben schon sehr früh emanzipiert ihren Weg ging, ohne freilich ihre religiöse Haltung preiszugeben. Überdies wird ihre Rolle als Integrationsfigur deutlich: Sie war eng mit Ernst Jünger befreundet, dessen „Arbeiter“ (1932) für sie bereits in jungen Jahren „ein Schlüssel zum Verständnis unserer Welt“ (Hackel, Begegnungen, S. 32) geworden war, aber auch mit Günter Grass, mit Manès Sperber und mit Marcel Reich-Ranicki, der sie insgesamt fünfmal in die Jury des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises lud und zu dessen „Frankfurter Anthologie“ sie zahlreiche Gedichtbesprechungen beisteuerte. Für viele junge österreichische Autorinnen und Autoren, etwa Christoph Ransmayr, Herbert Rosendorfer oder Brigitte Schwaiger, wurde sie zur Ansprechpartnerin und „Starthelferin“.

Bei allem Erfolg und aller öffentlichen Anerkennung, die ihr zuteil wurden, entsteht gleichwohl das Bild einer letztlich einsamen alten Frau, der die spät entflammte Auseinandersetzung um ihre Rolle im Dritten Reich womöglich mehr zugesetzt hatte, als sie sich selbst eingestehen oder andere merken lassen wollte. Im Vorfeld der Verleihung des Jean-Paul-Preises an sie wurde im Sommer 1993 von einigen Feuilletons ihr zeitweiliges Engagement für die nationalsozialistische Bewegung in reißerischer und unsachgemäßer Weise thematisiert. Ignoriert wurde dabei nicht nur, daß sie mit einigen ihrer Frühwerke der 1930er Jahre, insbesondere der „Mohrenlegende“, zwangsläufig mit den Vorgaben der NS-Kulturpolitik in Konflikt geraten mußte, sondern auch, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld oder zumindest der eigenen Verführbarkeit gegenüber einer der totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts letztlich den Subtext aller ihrer seit 1945 entstandenen Werke bildet – abgesehen davon, daß sie nie etwas verschwiegen hatte. Als vielleicht einzig positive Folge dieser ebenso schnell, wie sie aufgelodert war, wieder in sich zusammensackenden und überdies völlig überflüssigen Affäre kann man zumindest die Tatsache ansehen, daß sie mit den Hauptanlaß für Friedrich Denk darstellte, seine „Zensur der Nachgeborenen“  (1995) zu verfassen.

Der Leser folgt Hackel und seiner Heldin durch einen Roman in Tagebuchform. Wenngleich Gertrud Fussenegger per definitionem die dominierende Gestalt des Ganzen ist, so werden doch auch die zahlreichen  Nebenfiguren plastisch geschildert – einzelne Familienmitglieder, insbesondere ihr ältester Sohn aus erster Ehe, Raimund Dietz, Menschen aus ihrem häuslichen Umfeld, aber auch ihr mephistophelisch-beckmessernder Bibliograph Helmut Salfinger. Auch wird der Doktorand selbst ironisch („Der berühmte Hackel!“; Hackel, Begegnungen, S. 70/71) beleuchtet.

Ernst Jünger bezeichnete die Moderne, zu deren Beginn charakteristischerweise der Untergang der „Titanic“ sich ereignete – knapp einen Monat vor Gertrud Fusseneggers Geburt! – als „Zeitalter des Arbeiters“ und, bezugnehmend auf Hölderlins „Brot und Wein“, als „Interimszeit“: Die Götter verlören an Macht, die Titanen kehrten zurück, etwa in Form von vom Menschen kaum zu kontrollierenden Gewalten wie der Atomenergie. Eine dürftige Zeit, nicht nur für Dichter – eine Zeit, darin der Mensch in der Bewahrung seines Menschseins härtesten Prüfungen ausgesetzt sei.

In ihrer am 9. 9. 2002 in der Präsidentschaftskanzlei der Wiener Hofburg gehaltenen Dankesrede zur Verleihung des Großen Goldenen Ehrenzeichens mit Stern der Republik Österreich thematisierte Gertrud Fussenegger das Verhältnis von Staat und Sprache. Auch wenn der Staat vorrangig „auf die Sprache der Verfassung, die Sprache der Gesetze, der Parteien, sogar der Medien“ (Fussenegger, Dankesrede, S. 3) angewiesen sei – auf die „Sprache der Dichtung, auf dieses ganz eigenartige Dictum, das sich nicht erschöpft in faktischen Aussagen, sondern darüber hinausweist in einen Raum anderer höherer Verständigung, einer Verständigung, die im Sinnbildlichen wurzelt“ (Ebenda) habe er doch nie ganz verzichten können. Im Gegenteil: Die „Präambeln mittelalterlicher Vertragswerke“ (Ebenda), auch wenn man sie zu Recht als bloßen Schwulst ansieht, worin sich die Herrschenden selbst und gegenseitig ihrer Mildtätigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit versicherten, zeugten von der außerordentlichen Bedeutung des dichterischen Sprechens auch im politischen Raum – und dies nicht allein in negativer Hinsicht. Für Gertrud Fussenegger ist hierin nicht allein Schönrednerei, „Servilität und leeres Getöne“ (Fussenegger, Dankesrede, S. 4) dokumentiert, sondern trotz allem auch ein utopisches Moment angedeutet: Ein Imperativ oder wenigstens ein Monitum, „den Versuch zu unternehmen, all diese hohen Ansprüche zu verwirklichen, also: Gerechtigkeit zu üben, Treue zu halten, essentielle Güter zu verteidigen und auch der Ärmsten nicht zu vergessen.“ (Ebenda)

Auch wenn kritische Zeiten kritische Äußerungen erforderten, so wünschte sie sich doch für die Literatur die Rückkehr zu „jener sympathetischen Energie, die – wenn schon keine Milde – so doch ein gewisses Maß an Gerechtigkeit erkennen ließe, das schon die mittelalterlichen Präambeln als ersehntes Menschheitsziel beschworen haben“ (Fussenegger, Dankesrede, S. 4/5) und das sich vor allem in der großen europäischen Dichtung, bei Cervantes, Shakespeare, Corneille und Goethe etwa, stets ausgedrückt habe: Daß sich trotz Kriegen und bitterer Feindschaften immer wieder „Fäden gegenseitiger Kenntnisnahme und Kommunikation“ (Fussenegger, Dankesrede, S. 4) spinnen ließen, ohne die „auf Dauer wohl keinerlei Gemeinschaft möglich“ (Ebenda) sei.

Zum Abschluß ihrer Gespräche mit Rainer Hackel betonte Gertrud Fussenegger, daß die „Kunst eine Weise des Menschen“ (Ein Gespräch über ihr Leben und Werk, S. 124) sei, sein Wesen zu bestehen, welches laut Pascal darin bestehe, „daß er sich immer wieder um ein Unendliches“ (Ebenda) übersteige. Bedarf Europa nicht mehr denn je seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer solchen Ermahnung und Ermunterung?



Info:

Rainer Hackel: Begegnungen mit Gertrud Fussenegger
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2016
103 Seiten, EUR 12.00 (DE), EUR 12.40 (AT)
ISBN: 978-3-95948-137-3
EAN: 9783959481373

Rainer Hackel: Gertrud Fussenegger. Das erzählerische Werk
Mit einem Vorwort von Dieter Borchmeyer
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2009
406 Seiten, EUR 39.00
ISBN: 978-3-205-78429-6
EAN: 9783205784296

Rainer Hackel: Gertrud Fussenegger. Ein Gespräch über ihr Leben und Werk mit Rainer Hackel
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2005
147 Seiten, EUR 19.90
ISBN: 3-205-77375-6
EAN: 9783205773757

Gertrud Fusseneggers „Dankesrede zur Verleihung des Großen Goldenen Ehrenzeichens mit Stern der Republik Österreich“ wird zitiert nach:  Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft; Band 108 / 109 / 110 – 2004 / 2005 / 2006, LIT Verlag Wien / Münster 2006. Unter Mitwirkung von Christoph Fackelmann herausgegeben von Herbert Zeman. LIT Verlag Wien / Münster 2006. S. 3 – 5
ISBN 3-7000-0577-6 (Österreich)
ISBN 3-8258-8635-2 (Deutschland)
464 Seiten, 34.90 EUR, 34.90 CHF

Der Nachlaß Gertrud Fusseneggers liegt im Oberösterreichischen Literaturarchiv im Stifterhaus in Linz – und liegt derzeit noch brach, da es nicht zuletzt an den finanziellen Mitteln zu seiner systematischen Erschließung mangelt: Ein bedauerliches Faktum angesichts seiner immensen literatur- wie zeithistorischen Brisanz, dem hoffentlich bald Abhilfe geschaffen werden möge!