Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht, bei Rowohlt Berlin, Teil 3/6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie auf Frau Kaddor gemünzt – die, noch einmal, der Soziologe Welzer nicht im Blick hatte – antwortet er auf die Frage der FR: „Was bringt dann die Unterscheidung zwischen ängstlich und hysterisch?


Welzer:“ Sie macht darauf aufmerksam, daß wir ohne Sinn und Verstand auf die fiktiven Gefahren fokussiert sind. Wir stürzen uns auf reine Phantasmen, statt über wirkliche Probleme zu reden wie soziale Ungleichheit, Bildungsungleichheit, die Staatsverschuldung oder den Klimawandel. Und eine angeblich moderne, aufgeklärte Gesellschaft diskutiert wochenlang darüber, ob der Satz 'Wir schaffen das' richtig oder falsch ist. Wie absurd ist das denn! Das ist nicht nur eine Hysterisierung, sondern auch eine Infantilisierung.“

Das ist mir, die ich DIE ZERREISSPROBE der Rezension wegen Wort für Wort lesen muß, erneut aus dem Herzen gesprochen. Unter der Überschrift „Das böse R-Wort“ beginnt das Buch nämlich so: „Wir haben ein Rassismusproblem in Deutschland. Lasst uns endlich öffentlich darüber reden.“ Bei solcher Ansprache schüttelt es mich. Ich fühle mich wie in der Grundschule: 'das böse R-Wort'?  Aber schlimmer ist die Einschätzung der Autorin, als ob Deutschland – sozusagen heute auf einmal – ein Problem habe, was vorher nicht vorhanden gewesen wäre. Dies ist historisch völlig falsch. Gegenüber dem ausgeübten Rassismus des Deutschen Kaiserreiches (Italiens, Frankreichs, Belgiens, Englands noch schlimmer) im 19. Jahrhundert, gegenüber den Nazis, die den Rassismus mit Totschlag und Mord in die Tat umsetzten, gegenüber der Nachkriegszeit, wo in Westdeutschland in Anlehnung an die amerikanische Besatzungdevise „off limits“ damals als Neger bezeichnete schwarze Armeeangehörige rassistisch behandelt wurden und amerikanische Bars etc. nicht betreten durften, aber auch Russen als asiatische Horden bezeichnet wurden und im vertierten Antikommunismus zum schlechthin Bösen mutierten, von der Haltung gegenüber Zigeunern, KZ-Insassen und überhaupt dem Problem des Judenhasses einmal ganz abgesehen, ist die Entwicklung Deutschlands hin zu einem Land, wo viel offener das Thema Rassismus erörtert wird als je in der Geschichte der Deutschen, seit es Nationalstaaten gibt, doch etwas Positives.


Auf diesem Hintergrund gab es noch nie ein Deutschland, das weniger rassistisch gewesen wäre, was ja nicht heißt, daß alles gut wäre, nein, natürlich gibt es immer noch Rassismus und Rassisten, aber alle heutigen gesellschaftliche Probleme um das Thema Flüchtlinge auf Rassismus zurückzuführen, ist naiv, politisch gefährlich und schlicht falsch. Das Fremde wird nicht genuin von 'den Deutschen' abgelehnt, nie wären sonst die Deutschen Weltmeister im Reisen in andere Länder geworden. Flüchtlinge werden von den Bevölkerungsgruppen abgelehnt, die selbst auf der untersten Stufe gesellschaftlicher Anerkennung und auch beruflicher Chancen stehen und sich mit der Abwehr gegenüber Flüchtlingen hochwerten und ihre Lage dann auch noch damit begründen, daß es eine noch niedere Kaste gäbe, deretwegen sie zu kurz kämen.

Das ist eine inhaltliche Antwort auf dieses Buch, das für mich schon erst einmal von grundsätzlichen falschen Voraussetzungen ausgeht. Daß diese Moralkeule, die Frau Kaddor so nebenbei unaufhörlich schwingt, die ominöse 'Bringschuld der Deutschen', diejenigen nervt, die schon katholisch sind, ist eine andere Antwort. Man weiß einfach nicht, an wen sich die Autorin  mit ihrem Buch wendet. Diejenigen, die ihrer Meinung sind, brauchen es nicht. Andere kann sie auf eine solche Art nicht überzeugen. Eher durch den impertinenten und pharisäerhaften Ton abschrecken und lernunfähig machen. Und jemandem wie mir ist das ganze Buch zu oberflächlich, zu angelesen, ohne einen einzigen neuen Gedanken. Was sollen seitenlange Zitate von Politikern u.a., man versteht den Referierungswahn der Autorin nicht. Vor allem nicht ihre geringen geschichtlichen Kenntnisse, die sie dann auch noch andauernd einstreut, was weh tut.

Das gilt erst recht für ihre Worte zum Nationalsozialismus und dessen Fortleben in der Bundesrepublik Deutschland. Was auf Seite 175 steht, ist schlicht falsch. „Es waren die Besetzungmächte Deutschlands, die auf die Entnazifizierung gedrängt hatten und die schließlich nachgeben mussten, weil die innenpolitische Stimmung in Deutschland genau diesen Schlussstrich verlangte.“ Die Besatzungsmächte, allen voran die Vereinigten Staaten, haben erst einmal eine zutiefst formale Entnazifizierung auf Fragebögen durchgeführt, und dann, als sie den Feind nicht mehr in den abgewirtschafteten Deutschen, sondern im Kommunismus sahen, der Sowjetunion sowie allen hinter dem Eisernen Vorhang, eine Kehrtwendung gemacht, und in der Adenauerrepublik deren Altnazis weiterwirken lassen und diese nazidurchsetzte Bundesrepublik zum Bollwerk gegen den Abschaum hinter dem Eisernen Vorhang stilisiert.

Ein Nazi wie der unsäglich Hans Globke, der trotz seiner Mittäterschaft an den Nürnberger Rassegesetzen umstandslos der engste politische Vertraute  von Adenauer wurde, hätte dieses hohe politische Amt eines Chefs des Bundeskanzleramts (1953-1963) ohne Gewährenlassen der Amerikaner keinen Tag ausgeübt. Daß sich die Westdeutschen bei so viel Akzeptanz von Nazis in der BRD durch die Amerikaner nicht weiter mit diesen auseinandersetzten, sondern sich Nazis sogar - nach ein paar Jahren der Scham nach 1945 - erneut ausbreiteten und ein Komplizennetzwerk bildeten, ist eine bis heute noch nicht umfassend aufgearbeitete geschichtliche Tatsache, deren Ende Lamya Kaddor nun allerdings abenteuerlich deutet: Mitnichten hat erst der von der Autorin als Ursache einer Abwendung der Westdeutschen vom Nationalsozialismus angeführte vierteilige Fernsehfilm HOLOCAUST – DIE GESCHICHTE DER FAMILIE WEISS aus den USA dies bewirkt, der 1978 gedreht, im Januar 1979 in der ARD gezeigt wurde .

Fortsetzung folgt

Foto: Das Bild stammt aus einer Kunstausstellung im Museum moderner Kunst Wien. Körperkunst, d. h. die Verletzungen des Körpers sind manifest, die des Geistes und der Seele? (c) mumok.at


Info:
Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe
Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht
Originalausgabe, 240 Seiten
€ 16,99 (D)/ € 17,50 (AT)
ISBN: 978-3-87134-836-5
Erstverkaufstag 21. September 2016