Lesekultur oder kommerzielles Netzwerk?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Gemeinsames Lesen von Büchern und das anschließende Gespräch darüber können sehr reizvoll sein.

 

Doch die Literaturfreundinnen und -freunde, die sich regelmäßig im Frankfurter Literaturhaus versammeln, um sich gegenseitig aus ausgewählten Erzählungen und Romanen vorzulesen und über das Gehörte zu sprechen, scheinen ausgerechnet mit der deutschen Sprache ein Problem zu haben.

 

Denn wie anders ist es zu verstehen, dass man sich unter der englischen Bezeichnung „Shared Reading“ zusammenfindet? Oder verbirgt sich dahinter möglicherweise eine kommerzielle Strategie, die auf strikte Beachtung des registrierten Markenzeichens wert legt (das ® - Symbol deutet darauf hin)? Das könnte Indiz für eine besondere Spielart der hochumstrittenen Shared Economy sein.

 

Marketingaktionen erweisen sich häufig als erfinderisch, wenn das Aushängeschild Kultur mit wirtschaftlichen und politischen Interessen Einzelner verknüpft werden soll. Der Hinweis, dass man sich nicht ausschließlich als Lesezirkel, sondern auch als therapeutisches Projekt verstehe, lässt Interpretationen zu. Es ist nicht auszuschließen, dass Pharmaunternehmen für den Zukunftsmarkt „Senioren“ ein gesellschaftlich akzeptiertes Etikett suchen. Die von den Initiatoren zitierten Ergebnisse des britischen National Health Service, der von den Konservativen medizinisch und organisatorisch heruntergewirtschaftet wurde, scheinen in eine solche Richtung zu deuten.

Aber auch die desolate Personalstruktur in Grundschulen und die dadurch hervorgerufenen Probleme (u.a. das vergebliche Einüben des verstehenden Lesens), die im Elternhaus nicht immer gelöst werden können, eröffnen einen besonderen Nachhilfemarkt. Shared-Reading-Werbefotos aus England zeigen Schüler- und Seniorengruppen und bedienen sich eher schlichter Argumente für die Teilnahme an den Projekten. Begeisterung für Literatur äußert sich anders.

 

Die Initiatoren der Aktion, die ihren Sitz in Berlin haben, bezeichnen sich selbst als „Literarische Unternehmungen“, wobei das Impressum der Homepage auf ein Gewerbe ohne Eintrag im Handelsregister schließen lässt. Allerdings stößt man unter den erwähnten Unterstützern auf eine private Stiftung namens „Die offene Gesellschaft“. Den Stiftern wird bei der Wahl des Namens bewusst gewesen sein, was sie tun.

 

Dieser Begriff wurde politisch und philosophisch durch den Philosophen Karl Popper geprägt („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“), der totalitäre Ideologien wie Faschismus und Nationalismus mit dem Kommunismus gleichsetzte und auf vermeintliche gemeinsame Vordenker zurückführte: nämlich ausgerechnet auf Hegel und Marx. Kritiker haben ihm immer vorgeworfen, die Theoretiker des Sozialismus mit denen des imperialen Neoliberalismus sowie das Rassismus verwechselt zu haben.

 

Poppers Demokratieverständnis bedeutet in letzter Konsequenz eine Gesellschaft ohne Ideen, verbindliche ethische Maßstäbe und einen umfassenden Diskurs und erweist sich dadurch als besonders anfällig für alle Feinde der Demokratie. Der US-amerikanische Milliardär George Soros gründete nach dem Ende der Sowjet Union die Stiftung „Open Society Institute“, die Poppers Anschauungen vor allem im ehemaligen Ostblock propagieren soll.

Deren ungarischer Ableger wurde unlängst vom autoritär regierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán verboten, was aber keineswegs eine Unbedenklichkeitserklärung für Soros bedeutet, sondern eher als Machtkampf innerhalb desselben ideologischen Lagers zu verstehen ist.

 

Zweifel gibt es aber auch am vordergründigen Konzept des „Shared Reading“. Die Auswahl der Bücher sowie deren Zuordnung zu einer literarischen Epoche und zu einem gesellschaftlichen Hintergrund erscheinen als allzu willkürlich, zumindest als sehr laienhaft - ein aktueller dpa-Bericht legt das nahe. Ein typisches Beispiel für nichtfachliches Herangehen an Literatur ist die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath, die nach ihrem frühen Tod (1963) von einer bestimmten feministischen Strömung idealisiert wurde, obwohl das hinterlassene schmale Werk dazu keinen Anlass gibt.

Die Gruppenanleiter nennen sich „Facilitator“ - ein Modebegriff aus so genannten Zukunftswerkstätten, die aber den Anschein erwecken, untaugliche und überholte Modelle der Vergangenheit im Sinn einer formierten Gesellschaft neu etikettieren zu wollen.

 

Die persönliche Auseinandersetzung mit der Literatur ist von ihren Autoren immer beabsichtigt. Allerdings ist es dazu notwendig, Qualitätsmaßstäbe in den Diskussionsprozess einzuziehen, um einem Abgleiten in Geschwätzigkeit entgegenzuwirken und ebenso dem Missbrauch durch ganz anders gelagerte Interessen.

 

Fragen über Fragen, die sich aber ausgerechnet das Literaturhaus Frankfurt und die Frankfurter Stadtbücherei nicht gestellt zu haben scheinen.

 

Foto: (c) shared reading