FdrogenreferatInterview mit der Leiterin des Frankfurter Drogenreferats 

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Regina Ernst, Leiterin des Frankfurter Drogenreferats, spricht im Interview über die Auswirkungen der Coronakrise. Die Fachfrau erklärt, wie sich das Konsumverhalten der Bevölkerung in dieser Lage entwickelt und erläutert, auf welche Weise die Stadt auch in der derzeitigen Lage Abhängigen zur Seite steht.

Frau Ernst, seit man kaum noch vor die Tür kommt und die sozialen Kontakte drastisch eingeschränkt sind, warnen Suchtexperten, dass in vielen Haushalten mehr Alkohol und andere Drogen konsumiert werden als üblich. Was könnten die Gründe dafür sein?

REGINA ERNST: Die Coronakrise ist für uns alle eine Ausnahmesituation, die gewohnte und vertraute Alltagsabläufe von heute auf morgen komplett verändert hat. Sie bedroht alle wichtigen Aspekte des Lebens gleichzeitig: das soziale Miteinander, die körperliche Gesundheit und das psychische Wohlbefinden. Das kann sich zum Beispiel in der Angst vor Erkrankung oder Arbeitsplatzverlust manifestieren, in Existenz-Sorgen, Überforderung bei fehlender Kinderbetreuung oder depressiven Verstimmungen durch soziale Isolation oder soziale Enge, und vieles mehr.


Was erhoffen sich Menschen von ihrem Drogenkonsum und welche Risiken gehen sie ein?

ERNST: Alkohol, Cannabis und andere psychoaktive Substanzen können in Zeiten persönlicher und gesellschaftlicher Krisen ein Bewältigungsversuch sein, der Ängste und negative Gefühle scheinbar in Schach hält, die derzeit sicherlich bei vielen verstärkt aufkommen. Mit dem Substanzkonsum scheint die Situation erstmal erträglicher zu werden. Gleichzeitig entfallen bei einigen momentan gute Gründe, nicht zu trinken oder zu kiffen. Zum Beispiel, dass die Arbeit oder die vorgegebene Tagesstruktur Konzentration, Leistungsfähigkeit und Nüchternheit fordert. Oder dass im Home-Office die ,soziale Kontrolle‘ durch Kollegen und Freunde fehlt. Bei einigen Menschen kann etwa auch das Risiko bestehen, dass die Kombination von sozialem Stress, Ängsten und Drogenkonsum zu häuslicher Gewalt führt, besonders verstärkt durch enge Wohnverhältnisse und Überforderung durch fehlende Kinderbetreuung.


Liegen Ihnen Daten vor, welche die Warnungen eines erhöhten Konsums von Alkohol oder sonstigen Drogen bestätigen?

ERNST: Verlässliche Zahlen zum Alkoholkonsum in der Coronakrise in Deutschland gibt es bisher nicht. Aus einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung geht zwar hervor, dass der Einzelhandel um 14 Prozent zugelegt hat, jedoch geht aus der Studie nicht hervor, was konsumiert wurde. Der ,Havas Media Corona Monitor 3‘ hat festgestellt, dass aktuell 20 Prozent der Befragten ihren Alkoholkonsum in der vergangenen Woche erhöht haben, bei knapp 70 Prozent ist er gleichgeblieben. Die meisten Befragten trinken mit Personen aus dem eigenen Haushalt, rund 61 Prozent, ein Drittel trinkt auch mal alleine. Besonders Jüngere trinken mehr als sonst und haben dafür neue Trinkformen entwickelt, etwa Trinkspiele oder gemeinsames Anstoßen im Videochat. Zur Entwicklung des Cannabiskonsums in Deutschland liegen bisher noch keine Erkenntnisse vor. In den USA und Kanada, wo Cannabis legal ist, wird über eine Zunahme des Konsums berichtet. In Erinnerung sind auch die Bilder der langen Schlangen vor den Coffee-Shops, als in den Niederlanden die Schließung der Geschäfte bevorstand.


Wie sieht es mit Videospielen aus, die ja auch einen Suchtcharakter entfalten können?

ERNST: Die Nutzung von Computerspielen ist nach Erkenntnissen des Corona Monitors um 36 Prozent gestiegen. Vor allem regelmäßige Gamer spielen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich mehr, um bis zu 53 Prozent, bei Kindern gibt es ein Plus von 35 Prozent. Damit ist Gaming in dieser Altersgruppe derzeit sogar beliebter als Fernsehen und Streaming. Die Steigerung macht sich vor allem bei den Jüngeren Befragten im Alter zwischen 14 und 29 Jahren bemerkbar. Hier gibt mittlerweile fast die Hälfte der Befragten an, in der letzten Woche viel mehr Computerspiele gespielt zu haben.


Sind diese Anstiege besorgniserregende Trends oder lediglich eine temporäre Veränderung der Konsumgewohnheiten?

Ob es sich hierbei um dauerhafte oder temporäre Veränderungen handelt, ist aktuell nicht zu beurteilen. Auch schon vor der Coronakrise haben viele Menschen in Deutschland zu viel Alkohol getrunken oder riskant Cannabis konsumiert. Nach den Zahlen des Epidemiologischen Suchtsurvey 2018 trinken 12,6 Prozent der Erwachsenen in Deutschland Alkohol in riskantem Ausmaß. Der gewohnheitsmäßige, zu hohe Alkoholkonsum setzt sich bis ins Alter fort: 15 Prozent der über 60- bis 64-Jährigen trinken laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen riskant viel Alkohol. Mit Blick auf jüngere Menschen konsumieren nach der Frankfurter Mosyd-Studie 2018 insgesamt 8 Prozent der Frankfurter Schülerinnen und Schüler riskant oder intensiv Cannabis. Für diese Menschen ist die Coronakrise eine besondere Herausforderung, da sich Suchttendenzen bei Menschen, die ihre Gefühle und Probleme auch vorher schon mit psychoaktiven Substanzen betäubt haben, vermutlich verstärken werden.


Welche Hilfen können Sie jenen Menschen bieten, die in dieser Situation ein Alkohol- oder Drogenproblem entwickeln oder verstärken und dies beheben möchten, bevor es ihr Leben nachhaltig beeinträchtigt?

ERNST: Die Frankfurter Sucht- und Drogenberatungsstellen sind auch in Zeiten von Corona zu den üblichen Öffnungszeiten erreichbar. Menschen, die sich Sorgen über Ihren Alkohol- oder Drogenkonsum machen, können sich telefonisch oder per E-Mail beraten lassen. Besonders möchten wir Angehörige und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien sowie alle anderen Hilfesuchenden ermutigen, sich ohne Scheu mit ihren Anliegen an die Sucht- und Drogenberatungsstellen zu wenden. Gerade für diese Zielgruppen stehen kompetente Ansprechpartner bereit. Die Beratungsgespräche sind kostenlos und vertraulich. Die Berater unterliegen der Schweigepflicht und beraten auf Wunsch auch anonym.


Registrieren Sie in den letzten Wochen eher einen gesunkenen oder einen gesteigerten Beratungsbedarf?

ERNST: Das ist von Einrichtung zu Einrichtung sehr unterschiedlich. Viele Menschen wissen oder erwarten es vielleicht nicht, dass die Drogen- und Suchtberatungsstellen in vollem Umfang geöffnet sind und nach wie vor als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Deshalb gab es bisher in den meisten Einrichtungen auch weniger Neuanfragen, während der Kontakt mit dem schon in Beratung stehenden Klientel ganz normal weiterläuft, jetzt eben nur per Telefon. Besonders bei Jugendlichen geht die Zahl der Neuanfragen in den meisten Einrichtungen zurück.


Mit welchen Fragen wenden sich die Menschen derzeit an Ihre Beratungsstellen?

ERNST: Bei den schon bestehenden Kontakten sind die Themen gleichgeblieben: riskanter Konsum und Abhängigkeit. Die meisten Ratsuchenden kommen wegen Opiat-Abhängigkeit in die Beratungsstellen, an zweiter Stelle steht der Alkohol und an dritter Stelle Cannabis. Spezielle Themen sind aktuell Jobverlust, Einschränkung sozialer Kontakte und häusliche Gewalt. Es handelt sich zurzeit aber häufiger um Kriseninterventionen und unstrukturierte Betreuung, das heißt häufigere, aber dafür kürzere telefonische Kontakte.


Das Drogenreferat arbeitet normalerweise eher beratend und administrativ im Hintergrund. Wie wirkt sich die Coronakrise auf die tägliche Arbeit Ihres Teams aus?

ERNST: Das Drogenreferat ist als städtisches Amt direkt dem Gesundheitsdezernenten unterstellt. Zu unseren Aufgaben gehört die Erhebung von Bedarfen, die Entwicklung und Umsetzung von neuen Maßnahmen in Kooperation mit den Trägern der Drogenhilfe sowie die Evaluation, Koordination und Weiterentwicklung bestehender Angebote. Aktuell sind wir primär damit beschäftigt, gemeinsam mit unseren bewährten und neuen Kooperationspartnern die Überlebenshilfen für langjährig drogenabhängige Menschen zu sichern und weitere niedrigschwellige Krisenhilfen zu schaffen. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um Überlebenshilfe für eine sehr schutzbedürftige Gruppe von Menschen. Sehr wichtig ist uns auch, Menschen mit Drogenproblemen zu ermutigen, Rat zu suchen und sich unterstützen zu lassen.


Zur Person

Regina Ernst, Sozialpsychologin, arbeitete in verschiedenen Bereichen der Drogenhilfe, bevor sie 1992 als stellvertretende Leiterin des Drogenreferates begann. Seit 1996 leitet sie das Drogenreferat. Das Credo und die Erfahrung bei der Gestaltung des Frankfurter Weges in der Drogenpolitik: Es geht nur gemeinsam und interdisziplinär.

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Info:
In Frankfurt bieten zwei Suchtberatungsstellen Beratung und Hilfe für Erwachsene mit Suchtproblemen im Bereich Alkohol, Medikamente und Glücksspiel an.