Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Die heute anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Dezember 2012, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Seit wir in der Pressevorführung ANNA KARENINA gesehen haben, denken wir über diesen Film nach. Gar nicht mal über den Film selbst, sondern über seinen Eindruck auf uns. Selten wollten wir von einem Film wissen, wie er uns wirklich gefallen hat. Dieser hat uns nämlich nachgerade gefesselt, obwohl wir viele Gründe haben, ihn – eigentlich – nicht gut zu finden. Aber leider steht hier Kopf gegen Bauch. Und der Bauch siegt.

 

ANNA KARENINA

 

Jetzt aber kommt erst einmal der Kopf. Wie viele Verfilmungen der weltbekannte Roman von Leo Tolstoi schon erlebt hat? Bekannt sind uns ein Dutzend einschließlich so vieler Seifen-Oper-Serien, die daraus gemacht wurden. Angefangen hatte es 1927 mit der Garbo. Ihre tragisch-schönen Züge sehen wir noch heute vor uns. Aber kann sein, daß wir das verwechseln mit ihrer Sprechfilmversion von 1935. Nun also Keira Knightley als Anna mit ihrem Ehemann Karenin, den Jude Law gibt und dem jugendlichen Liebhaber, für den sie alles stehen und liegen läßt, der Aaron Taylor-Johnson ist.

 

Den Mut zur Verfilmung hatte der Brite Joe Wright, der sich auf ein Drehbuch von Tom Stoppard stützen konnte. Dieser bekannte englische Dramatiker hatte schon das Drehbuch von SHAKESPEARE IN LOVE verfaßt. Der Regisseur dagegen hatte schon zweimal mit seiner Hauptdarstellerin Knightley zusammengearbeitet, in STOLZ UND VORURTEIL und in ABBITTE, beides ebenfalls Literaturverfilmungen. Auch wenn der Roman weltberühmt ist, wollen wir die Handlung, wie sie im Film abläuft, kurz zusammenfassen.

 

Der Roman und der Film ANNA KARENINA spielen im Jahr 1874, hauptsächlich in Sankt Petersburg, auch in Moskau, in den Zügen, mit denen Anna von A nach B kommt. In Petersburg ist Anna mit Karenin verheiratet, der ein hoher Regierungsbeamter ist und dem sie eine ideale Ehefrau ist. Sie hat ihm einen Sohn geboren, nimmt in der Besseren Gesellschaft der Stadt einen angesehen Platz ein und verschönert sein Heim, das insgesamt im Gegensatz zu seinen trockenen politischen Geschäften steht. Nun muß Anna nach Moskau reisen, wofür es 1874 die Eisenbahn als schnellste Verbindung über 650 Kilometer gab, übrigens schon seit dem Jahr 1837. Anna will versuchen, die Ehe ihrer Schwägerin Dolly zu retten, da deren liebessüchtiger Ehemann und Bruder von Anna, Oblonskij es als Schürzenjäger wieder einmal übertrieben hat.

 

Im Zug lernt sie Gräfin Wronski kennen, nein, wird eigentlich von dieser kennengelernt, deren Sohn Kavallerie-Offizier ist und sie am Bahnhof in Moskau abholt. Beide, Wronski und Anna sind von einander beeindruckt. Im Haus Oblonskij ist auch dessen bester Freund zu Besuch, Levin, der in Dollys jüngere Schwester Kitty verschossen ist und auch gute Karten für die Ehe hatte, ehe Kitty diesen Wronski kennenlernte, von ihm nach Strich und Faden erobert wurde, dann aber fallengelassen, als er endlich auf einem Ball Anna wiederseht, mit ihr durchtanzt und sich der Beginn des Skandals andeutet, den Anna scheut, weshalb sie überstürzt nach Sankt Petersburg und nach Hause zurückkehrt. Ihr auf den Fersen Wronski.

 

Die Lage spitzt sich zu, denn die Leidenschaft beider ist nicht auf Separees beschränkt, sondern die ganze Stadt nimmt Anteil am Liebesgeschehen, unerträglich für Karenin, der sich erst mit den Mitteln eines Ehemannes durchsetzen will, das geliebte Kind bleibt bei ihm, der aber dann, als er Annas Außersichsein erkennt, ihr die Freiheit dieser Liebesbeziehung läßt, wenigstens ein bißchen. Anna ist süchtig und sie tritt in alle Fettnäpfchen einer Liebenden.Sie unterstellt Wronski nachlassende Leidenschaft, vergehende Liebe, wo dieser einfach ein wenig Freiraum braucht und seinen Platz in der Gesellschaft behalten möchte, der Anna so gleichgültig ist wie nur etwas. Es geht übel aus.

 

Man sieht, ein hochdramatisches Geschehen. Warum dieser Film nicht auseinanderbricht und nicht melodramatisch noch kitschig noch trotz der ungeheuren Ausstattung – wirklich ein Kostümfilm in des Wortes guter Bedeutung – überladen und pervers erscheint, hat mit einer einzigen Entscheidung zu tun, die für diesen Film genial und auch die Rettung ist. Joe Wright verlagert die ganze Geschichte, den ganzen Roman auf eine Theaterbühne. Macht ein Theaterstück daraus, das aber das Leben in Rußland vor 1900 simuliert, ohne Theater zu sein oder Theater zu bleiben. Das muß man sich so vorstellen, daß immer wieder Szenen auf dieser Bühne mit vielen Bühnenböden beginnen, die dann in der Totalen im 'normalen' Leben weitergehen. Wir ihnen also wie 'echt' folgen, dann aber immer wieder in die Struktur des Theaters zurückkehren.

 

Vorgemacht, allerdings weitaus radikaler, hat so etwas vor fast zehn Jahren Lars von Trier, als er in DOGVILLE auf den Boden den Grundriß eines Hauses zeichnete, dessen Tür aufgemacht wird, wir hören das Knarren, es öffnet sich eine richtige Tür und wir sind im Geschehen, als ob es Wirklichkeit sei. Das ist ein Kunsttrick, der in ANNA KARENINA bewirkt, daß wir immer die Fassung behalten, daß wir einer Handlung folgen, ohne die Reflexion dessen, was wir sehen, aufzugeben, also nie dem Geschehen völlig ausgeliefert sind und dennoch intensiv dabeibleiben. Die Aufnahmen von Rußland, sei es von den Weiten beim Fahren, sei es die reiche und sich in tiefen Dekolletees zeigende Gesellschaft, sei es die gesuchte und gefundene Zweisamkeit, die Aufnahmen sind opulent.

 

Die Ballszenen, unglaublich eindrucksvoll choreographierte quasi Tanzduelle, die auch, als alles noch am Anfang ist, den Beischlaf von Anna von Wronski vorwegnehmen, sind ein weiteres Mittel, das Geschehen zu stilisieren und vor uns wie eine Parabel entwickeln zu lassen oder auch wie ein antikes Drama, das mit einer Gesetzmäßigkeit abläuft, dem keiner Einhalt gebieten kann. Nicht einmal Karenin, der sich darum bemüht und der der einzige bleibt.

 

Wir wollen noch einmal auf Freund Levin (Domhnall Gleeson) zurückkommen, der eine wichtige korrigierende Funktion im Film einnimmt. Erstens lebt er Liebe und gewinnt dadurch dann doch das Herz der verstörten Kitty. Zweitens meidet er die Hauptstädte und lebt auf dem Land in seiner Landwirtschaft mitanpackend. Ein Beispiel für Naturverbundenheit wie soziale Gerechtigkeit. Er verkörpert das, was russische Seele genannt wird, und ist als Person und als Landherr das positive Gegenstück zu dieser aufgeheizten städtischen Atmosphäre der Oberen Zehntausend. Anna, ein Reiche Leute Schicksal. Ja, und dennoch auch das Geschick einer Frau, die an der Liebe zerbricht.

 

Info: Es gibt sehr viel unterschiedliche Übersetzungen auf Deutsch von Anna Karenina. Wenn der Verlag Diogenes jetzt ein Buch zum Film annonciert, folgt dies einer geglückten Aufmerksamkeitsstrategie. Es ist nämlich dem Taschenbuch von 1985 in der Übernahme der Gesamtausgabe von 1928 ein bunter Umschlag vorgeheftet, der Keira Knightley zeigt und auf den Film Bezug nimmt. Darunter in der Fassung von 1985 sehen wir auf dem Umschlag Greta Garbo abgebildet, die Anna Karenina 1935 gespielt hatte. Wir haben nichts dagegen, daß möglichst viele Tolstois Original kaufen und lesen, aber es ist eben kein neues "Buch zum Film", denn es enthält nur den Text und keine Bilder.