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Kategorie: Film & Fernsehen
f luckycSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. März 2018, Teil 3

N.N.

Los Angeles (Weltexpresso) – NICHTS IST ALLES, ALLES IST NICHTS „Nichts ist für die Ewigkeit.“ - Harry Dean Stanton

Ganz am Ende von THE STRAIGHT STORY, nach zweistündiger Reise durch das Hinterland Nordamerikas, kommt der von Richard Farnsworth gespielte Endsiebziger Alvin an seinem Ziel an. Er ist auf seinem Rasenmäher in Iowa aufgebrochen, um nach Wisconsin zu fahren. Dort lebt sein Bruder Lyle, der krank sein soll und mit dem Alvin seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hat. Er will Verpasstes nachholen, Zerbrochenes wieder richten, bevor es zu spät ist. Bis zu dieser letzten Szene hat man den Bruder nicht gesehen.

Man weiß nicht, ob Alvin ihn vorfinden wird, ob Lyle überhaupt noch lebt und wenn ja, wie er reagieren wird. Und dann ist Alvin am Ziel und sieht die kleine Hütte seines Bruders. Er ruft Lyles Namen und kann nicht fassen, dass er tatsächlich eine Antwort erhält. Jetzt sehen wir Lyle zum ersten Mal. Er wird von Harry Dean Stanton gespielt. Anders als wir hat er Alvin nicht auf seiner unglaublichen Reise begleitet, kann er unmöglich wissen, was der alte und gebrechliche Mann alles durchgemacht hat, um seinem Bruder wieder nahe sein zu können. Die beiden Männer sitzen nebeneinander auf der Veranda und Lyle wirft nur einen kurzen Blick auf den Rasenmäher. Und in seinem Gesicht spielt sich in zwei Sekunden der komplette Film noch einmal ab. In diesem kurzen Augenblick gelingt es Harry Dean Stanton, mit zwei oder drei Sätzen und ansonsten nur mit seinen Augen, alles zu erzählen, was man wissen muss. Ein ganzer Film in einem traurigen, wehmütigen Blick.

Diese Art von Schauspieler war Harry Dean Stanton, der am 15. September 2017 im Alter von 91 Jahren gestorben ist und der in LUCKY nicht einfach nur ein letztes Mal groß aufspielt, sondern in einem Film alles noch einmal zusammenfasst, was ihn seine gesamte Karriere über geprägt und ausgezeichnet hat. Man solle es ganz nüchtern einfach nur Sterben nennen, meint LUCKY-Regisseur John Carroll Lynch, weil Harry Dean Stanton es genauso nüchtern empfunden habe. Er mochte es nicht, Dinge nicht beim Namen zu nennen. Für ihn gab es keine sterbliche Hülle, die man abstreift. Weil danach nichts mehr ist. Wir sind unsere sterbliche Hülle. That’s it. Die nackte, nüchterne Wahrheit. Stantons Schauspielkunst in nahezu 200 Film- und Fernsehrollen unterstreicht, dass ihm eines wichtig war: die Suche nach der Wahrheit. Der Wahrheit seiner Figuren, der Wahrheit der Geschichten, in denen sie sich bewegen, der Wahrheit einer Welt, die Nichts ist und nicht mehr und nicht weniger.

Zeit seines Lebens hat Harry Dean Stanton, und das erscheint wirklich unfassbar bei einem Schauspieler, der so prägend und unvergesslich und einzigartig war, nur in zwei Filmen die Hauptrolle gespielt. Okay, zweieinhalb, wenn man noch Monte Hellmans schönen, aber weitgehend vergessenen COCKFIGHTER von 1972 dazu rechnet, in dem er gleichberechtigt neben Warren Oates spielt. Aber ansonsten sind es nur PARIS, TEXAS von Wim Wenders, der Film, für den man Stanton in Deutschland zweifellos am besten kennt, und LUCKY, sein letzter großer Film. Bezeichnenderweise beides Filme, die in der Wüste spielen, die Stantons natürliches Lebensgebiet zu sein scheint, so ausgedörrt ledrig und ausgemergelt er aussieht, wie einer dieser Riesenkakteen, die Wind und Wetter und Hitze und Dürre standhalten müssen. „Seine Traurigkeit scheint tief in ihn eingebrannt, als würde er regelmäßig in Tränen ausbrechen“, steht in einem Porträt Stantons im Arena Magazine aus dem Jahr 1989 geschrieben. „Das scheint gut zu ihm zu passen, er ist der Säufer und Kiffer, ein urbaner Nomade, ein Stadtcowboy, und nunmehr auch Schüler des Buddhismus, Harry Dean ist der letzte der großen weißen Dharma-Bums. Was früher einmal Wut war, ist einem Bedauern gewichen. Den Stein kann man wahrscheinlich nur etwas glatter waschen (erst durch Fusel und nun durch Buddha), aber immerhin sind seine Kanten runder geworden.“

Harry Dean Stantons ungerührter darstellerischer Minimalismus, seine immer präsente Traurigkeit, die davon kündet, dass seine Augen mehr von den Schattenseiten der Welt gesehen haben, als es ihm lieb war, und diese aufrichtige Art, sich niemals verbiegen zu lassen, haben dazu geführt, dass er nie ein klassischer Leading Actor werden konnte. Aber wenn er denn ein Charakterschauspieler ist, dann ist er der Inbegriff eines Charakterschauspielers, ein leuchtendes Vorbild: Wenn man an das coole Independentkino der Achtziger denkt, an die Filme von Wenders, Jarmusch und Lynch, dann sieht man automatisch Harry Dean Stanton vor sich, diesen Ritter von der traurigen Gestalt, der dem Leben trotzt, weil es sonst eben nichts anderes gibt.

Wenn Harry Dean Stanton oder M. Emmett Walsh mitspielten, hat der legendäre Kritiker Roger Ebert einmal geschrieben, wisse man, dass ein Film nicht ganz schlecht sein könne. Immerhin hätte man stets die beiden, an die man sich klammern könne. „Harry Dean ist ne schräge Type“, sagte Charles Bukowski über ihn. „Er macht einem nichts vor. Er sitzt einfach nur depressiv rum. Ich sage: ,Harry, verdammte Scheiße, es ist nicht so schlimm.’ Aber wenn man sich mies fühlt und jemand sagt sowas, dann fühlt man sich gleich noch mieser.“

Harry Dean Stanton verkörpert das andere Amerika. Das Amerika, das man aus dem Kino kennt und das so ist, wie es sein soll, wie man es aus aberhundert Western gelernt hat. Aber es ist ein Amerika, das zu viel weiß über das andere Amerika, das wahre Amerika, in dem nur das Geld zählt und der Mensch Verhandlungsmasse ist. Deshalb kann es nicht fröhlich sein, nicht stolz, nicht entspannt. Collin Souter schreibt über Harry Dean Stanton: „Er war der Cop, das Wrack, der Anführer, der Weltallreisende, der Betrüger, der Einzelgänger, der Cowboy, der Poet, der Säufer, der Vater, der entfremdete Bruder. Man muss ihn nur ansehen und man weiß sofort, dass er sowohl ein Sucher ist wie auch ein Mann, der alle Antworten kennt. Ein Wanderer und ein Mann, der angekommen ist.“

Da steckt immer eine Sehnsucht drin, wenn man Stanton in seinen Filmen sieht. Er ist ein Vorbild, obwohl er das nie sein sollte. Gerade in den letzten Jahren ist er Kult geworden. Auf Facebook gibt es eine Gruppe, die sich „Harry Dean Stanton: Appreciation of ‚Nothing’“ nennt, fast 50.000 Menschen haben sie abonniert. Es gibt nicht viel, was schöner ist. Beinahe täglich gibt es neue Perlen der Weisheit aus seinem Mund oder von anderen Menschen, die über ihn reden. Und alle wünschen sich so zu sein wie er, dieser Mann, der nicht an Gott und ein Leben nach dem Tod glauben will und deshalb das Leben so sehr liebt. Man muss sich nur LUCKY ansehen, und man weiß warum. „Es gibt keinen, der so ist wie er“, sagt David Lynch, der Harry Dean Stanton immer wieder besetzt hat – u. a. in THE STRAIGHT STORY – und in LUCKY seinem Freund die Ehre erweist, neben ihm vor der Kamera zu stehen. „Ich überlege mir, wer sonst die Rollen spielen könnte, die er spielt. Es fällt mir nur niemand ein.“

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Info:
BESETZUNG
Lucky                     HARRY DEAN STANTON
Howard                  DAVID LYNCH
Bobby Lawrence   RON LIVINGSTON
Dr. Kneedler           ED BEGLEY, JR.
Fred                       TOM SKERRITT
Joe                         BARRY SHABAKA HENLEY
Paulie                     JAMES DARREN
Elaine .                   BETH GRANT