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Kategorie: Film & Fernsehen
f weingartnerSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 19. Juli 2018, Teil 11

N.N.

Berlin (Weltexpresso) - Was war deine Ausgangsidee für 303?

Ich wollte den Film schon immer machen, weil ich gedankliche Auseinandersetzungen und Theorien über alles liebe. Wie funktioniert die Welt? Die Neugier war immer schon meine treibende Kraft. Ich war Wissenschaftler, bevor ich Filmemacher geworden bin und 303 ist für mich der ideale Weg, beides miteinander zu kombinieren. Inspiriert hat mich natürlich BEFORE SUNRISE von Richard Linklater. Bei den Dreharbeiten in
Wien habe ich damals als kleiner Produktionsassistent mitgearbeitet. Da bekam ich auch das Originaldrehbuch in die Hände, das mich komplett fasziniert hat. Und SLACKER von Linklater war damals mein Lieblingsfilm. Darin laufen Leute durch Austin, Texas und geben Theorien und skurrile Fakten von sich. Ich hab mir den Film 8 Mal im Kino angesehen. Neue Assoziationen und Zusammenhänge interessieren mich einfach
brennend. Außerdem wurde ich ja in Wien sozialisiert, der Stadt der Philosophie – da wird in der jeder WGKüche sowie im Kaffeehaus tundenlang mit Hingabe diskutiert.


In Berlin und anderswo auch!

Nein, nein, nein! Als ich nach Deutschland kam, habe ich sofort gemerkt, dass hier ein anderes Klima herrscht. Hier wird gemacht. Das ist das Land der Praxis. Die Leute hier haben alle Projekte. Die ziehen sie durch. Selbst unter Hausbesetzern war das so. In Wien jedoch - meinem Wien jedenfalls - wurde nächtelang im Kaffeehaus gesessen und philosophiert und dann gescheitert. Die Lust am Untergang. Verstehst du? Wenn du auf dem Zentralfriedhof liegst, dann bist du ganz oben. In Deutschland hingegen musst du Erfolg haben.


Da passen Jule und Jan aber nicht ins Schema.

Völlig richtig. Die sind old school. Das würde ja auch zu dem Wohnmobil passen, diesem Bus aus dem Jahr 1980, in dem sie wie in einer Zeitmaschine sitzen. Der Bus ist quasi eine Raumkapsel und eine Zeitmaschine, mit der sie durch das Jahr 2018 fahren.


Welche Themen stehen für dich in 303 im Mittelpunkt?

Es geht um Liebe und Beziehung und warum wir nach 300 Jahre alten Beziehungsmodellen leben. Ich meine, 90 Prozent des Unglücks dieser Erde gehen auf gebrochene Herzen zurück. Das ist die Wurzel allen Übels. Zudem geht es um das System, und wie es sich mit der Natur des Menschen verträgt. Sind wir kooperative, soziale Wesen? Oder bekämpfen wir uns lieber alle gegenseitig, sind also kompetitiv? Das ist die
alles entscheidende Frage, von der das Überleben dieses Planeten jetzt abhängt. Diese eine Frage entscheidet alles! Sind wir Cro-Magnon-Menschen oder Neandertaler?


Ist 303 für dich auch ein politischer Film?

Es gibt nichts, was politischer ist, als die Liebe und nichts Radikaleres, als sich hundertprozentig auf einen anderen Menschen einzulassen. Aber wenn ich ehrlich bin, ging es mir ja nicht darum, einen Liebesfilm zu machen. Das, was Jan und Jule reden, das wollte ich verbreiten, und das ist natürlich hochpolitisch. Was man nebenher macht, gelingt ja immer besser, weil es aus der Absichtslosigkeit entsteht, daher nichtintentional
– ich wollte keinen Liebesfilm machen, vielleicht ist es deswegen ein ganz guter geworden. Kunst muss passieren, dieser Ansatz aus den 70ern stimmt wahrscheinlich immer noch.


Deshalb hast du die beiden in einem Bus „on the road“ geschickt?

Die erste Idee zu diesem Film hatte ich bei den Dreharbeiten zu DAS WEISSE RAUSCHEN. Am Ende fährt die Hauptfigur Lukas, gespielt von Daniel Brühl, mit einer Gruppe von Hippies in alten Bussen nach Spanien. Bei den Dreharbeiten bin ich selber nachts bei einer Hippie-Rasta-Frau mitgefahren. Wir haben uns stundenlang unterhalten. Das war eines der besten Gespräche meines Lebens. Ich habe mich gefragt, warum das so ist und bin darauf gekommen, dass das mit auch daran liegt, dass man sich in so einem alten Wohnmobil außerhalb von Raum und Zeit bewegt. Vor allem, wenn man nachts fährt, kann man irrsinnig gut über Gott und die Welt reden. Du siehst die Welt nicht mehr, sie ist verschwunden, und gleichzeitig fährst du in einer Gruppe, fühlst dich aufgehoben und sicher.


Die Dialoge in 303 wirken spontan, fast improvisiert.

An diesen Dialogen schrieb ich seit 1997, fast wie eine Art Tagebuch. Ich habe eine etwa 300-seitige Dialogsammlung auf meinem Computer. Theorien, die ich über Jahrzehnte aufgeschnappt habe, in Dialogform. 
Dann musste ich die Passagen auswählen, und zusammen mit meiner Co-Autorin Silke Eggert schauen, wie man einen thematischen Bogen hinbekommt. Dann habe ich noch einmal recherchiert und viele Videointerviews gemacht mit jungen Leuten, um das ein bisschen inhaltlich upzudaten. Letztendlich ist die letzte und wichtigste Stufe dann, mit den Schauspielern zu proben. Sie müssen diese Dialoge inhalieren, verinnerlichen. So eine intensive und lange Probezeit ist natürlich ein Luxus, den ich aber von vornherein eingeplant habe. Im Endeffekt wirken die Dialoge improvisiert – was mich sehr freut – aber es ist jedes Wort geschrieben und genau so geprobt. An den Dialogen ist rein gar nichts zufällig. Das geht nicht anders, solche Texte kann man nicht improvisieren. Das wird zu lang und ufert aus und ist zu sprunghaft.


Welche Phase ist für dich die kreativste?

Es ist ein toller Glücksmoment, wenn du beim Dreh einen Take hast, der magisch ist. Wenn du das oder mehr als das bekommst, was du dir beim Schreiben ausgedacht hast. Diesen Schöpfungsakt, den vollenden die Schauspieler. Wo vorher nichts war, ist plötzlich eine lebendige Figur. Es ist wie in der Quantenphysik: Wo eben noch leerer Raum war, ist plötzlich Energie, ein Teilchen. Der Tanz der Wu-Lin Meister. Das ist
Kreativität für mich.


Worin siehst du deine konkrete Aufgabe als Regisseur?

Erstens muss ich einen offenen Gestaltungsraum anbieten. Und dann muss ich den Schauspielern wie ein Zuschauer sagen können, was ich spüre. Das ist unglaublich schwer, weil man in diesem Moment ganz offen sein und wirklich nur den Film sehen muss. Man darf nicht daran denken, ob gleich das Licht weggeht, was mit dem Ton ist und all die anderen 1000 Sachen. Auch den ganzen Film vor und nach der Szene im Gefühl zu haben, und zu wissen was die Szene für eine Stimmung braucht, auch wenn es gar nicht zur eigenen Stimmung in dem Moment passt – auch das ist immer eine Herausforderung. Dieses ständige Sich-HineinVersetzen: das kostet Kraft und braucht viel Übung.


Wie bist du auf Mala und Anton gekommen?

Ich habe zwei Darsteller gesucht, die diese Dialoge so rüberbringen, dass sie natürlich klingen. Und klar, ich wollte auch Menschen mit Charisma, die ich interessant und sympathisch finde. Zwei Jahre lang suchten wir. Mitten drin habe ich mehrmals aufgegeben. Plötzlich ging es ganz schnell: Der Regisseur Sven Bohse hat mich auf Mala Emde hingewiesen. Ich habe ihr Demoband gesehen und wusste sofort, dass sie die richtige sein könnte. Diese Kombination aus Verletzlichkeit und Sensibilität, aber auch Durchsetzungskraft und Stärke. Auf Anton bin ich in einer Schauspieler-Datenbank gestoßen. Wir haben uns in einem Café getroffen, zwei Stunden über Politik gesprochen und dann habe ich ihm vorgeschlagen, dass wir Mala, die an diesem Tag in den Urlaub fahren wollte, gemeinsam zum Flughafen bringen. Im Taxi haben sie dann improvisiert zum Thema Monogamie versus Polygamie und sind gleich total abgegangen. Da war mir schon klar, dass es mit den beiden funktionieren könnte.


303 ist für mich auch ein Film, der Europa feiert.

Eher zufällig, aber ja, tut er schon. Jan und Jule klatschen sich ja auch an jeder Grenze ab. Sie müssen nie durch eine Grenzkontrolle. Diese dichte Vielfalt an Landschaften, Sprachen und Kulturen, die man in Europa grenzenlos bereisen kann, das ist einzigartig. Bei all dem Jammern und Klagen über die Kinderkrankheiten vergisst man das immer.

Ich liebe die Idee, die hinter Europa steht. Die Freiheit, das Miteinander. Ein Vorbild für die ganze Welt, dass so verschiedene Sprachen und Kulturen sich friedlich vereinen können, ein Modell für die Zukunft des Planeten. Denn: Das klingt vielleicht kitschig, aber stell dir mal vor, was für eine wunderbare Welt das wäre, wenn es überhaupt gar keine Grenzen mehr gäbe, nirgendwo. Ich denke seit 20 Jahren fast ununterbrochen
darüber nach, wie man die Welt retten könnte. Wir haben Plastik im Ozean, Erderwärmung, Atomwaffen und du kommst eigentlich immer wieder an den Punkt: Die Menschheit muss diese Probleme kooperativ lösen. Es gibt keinen anderen Weg. Wir brauchen eine Weltregierung, oder wenigstens eine enge weltweite Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg, oder wir sind in 50 Jahren tot. Wettbewerbsfähig, wenn ich das
schon höre, Mann. Wettbewerb darum wer den Karren schneller in den Deck fährt, oder was? Wir werden gemeinsam überleben oder jeder für sich ins Gras beißen. Daran hat sich in 30.000 Jahren nichts geändert. 
Steht alles in der Höhle von Altamira an der Wand.

Foto:
Der Regisseur mit seinen beiden Hauptdarstellern auf der Berlinale 2018
© berlinale.de

Info:

HANS WEINGARTNER (Regie und Drehbuch) Hans Weingartner wurde 1977 in Feldkirch / Vorarlberg (Österreich) geboren. Er studierte Film an der Kunsthochschule für Medien Köln und erhielt in dieser Zeit ein Stipendium für Hochbegabte. Sein erster Spielfilm DAS WEISSE RAUSCHEN erntete begeisterte Kritiken und gewann zahlreiche Auszeichnungen. 2004 wurde sein Film DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI im offiziellen Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Cannes gezeigt. Zudem lief er weltweit in über 50 Ländern, erlangte Kultstatus und war einer der erfolgreichsten deutschen Arthouse-Filme des Jahrzehnts. Mit FREE RAINER – DEIN FERNSEHER LÜGT kreierte er eine bissige Satire über das Trashfernsehen. 2012 widmete er sich mit DIE SUMME MEINER EINZELNEN TEILE wieder einem seiner zentralen Themen: dem Kampf um die Freiheit in einer repressiven Gesellschaft

BESETZUNG
Jule MALA EMDE
Jan ANTON SPIEKER

STAB
Regie           HANS WEINGARTNER
Drehbuch     HANS WEINGARTNER, SILKE EGGERT
Kamera        MARIO KRAUSE, SEBASTIAN LEMPE

Abdruck des Interviews und der Regieseurangabe aus dem Presseheft