F tokat Archiv 1 600x338Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. September 2018, Teil 29

N.N. 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dieser Film ist wirklich am richtigen Ort, wenn er in Frankfurt Premiere hatte und auch bei den Aufführungen die Besucher sich über das Gesehene austauschen. Manchen fällt erst beim Zuschauen der damaligen Zustände auf, daß heute diese damals renitenten, rabiaten und echt gewalttätigen jungen Männer keine Nachfolger haben, so friedlich ist das Zusammenleben heute in Frankfurt. 

DIE PROTAGONISTEN 

Kerem lebt als Frührentner in Frankfurt. Er ist körperlich und seelisch stark von der Vergangenheit ge­zeichnet. Sein Gehirnwasser kann nicht abfließen und wird deshalb durch einen Schlauch vom Kopf in den Magen gepumpt. Er muss dauerhaft starke Schmerzmittel nehmen. Als einer der Älteren bei den „Turkish Power Boys“ und durch seine vielen Straftaten hatte er in den 90er Jahrenden den Status einer Legende. Kerem fing früh an zu dealen und wurde schnell drogensüchtig. Mehrfach wurde er wegen Drogenhandels verurteilt. 1997 dann wegen Todschlags. Insgesamt war er 11 Jahre im Gefängnis. Der Mord war als Rachemord für seinen jüngeren Bruder geplant, der bei einer Messerstecherei ums Leben gekommen war. Als „nutzloser Junkie“ wollte er auf diese Weise die Ehre der Familie wieder herstellen und Anerkennung bekommen. Doch sein Opfer war scheinbar gewarnt worden und Kerems Plan ging nicht auf. Zugedröhnt mit Kokain rempelte er am Bahnhof einen Amerikaner an. Als der sich mit „Fuck you“ bedankte, flippte Kerem aus und stach zu.Kerem ist der Film TOKAT ein großes Anliegen, um Jugendliche, wie er einer war, vor dem Abrutschen auf die schiefe Bahn bewahren zu können.


Hakan kam mit 16 Jahren allein nach Deutschland. Seine Eltern konnten nicht nach Deutschland emi­grieren, deswegen wurde er als Kind anderer Eltern nach Deutschland „nachgeholt“. Hakan sprach kaum Deutsch und fühlte sich dadurch in der Schule nicht wohl. Er schwänzte immer häufiger und ließ es irgendwann ganz sein. Ein paar Jungs, die auch aus seinem türkischen Dorf aus Bayat stammten, nahmen ihn aber sofort in ihre Jugendbande auf. Er galt als der intelligente Bandenorganisator. Als Hakan trotz Malerlehre arbeitslos blieb, wurde er ohne unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Deutsch­land wieder in die Türkei abgeschoben. Dort verweigerte er den Militärdienst, bekam daraufhin seinen Pass entzogen. Seitdem ist er staatenlos. Hakan versuchte mehrfach illegal nach Deutschland zu einreisen, was ihm nicht gelang.Seit dem lebt er als Feldarbeiter in Bayat. Sein Einkommen reicht kaum zum Überleben. Ohne Pass bzw. Staatsangehörigkeit besitzt er die grundlegenden Bürgerrechte nicht. Als unverheirateter, alleinlebender Mann hat er in Ostanatolien keinen guten gesellschaftlichen Status.


Dönmez wurde in Frankfurt geboren und besuchte dort bis zur 9. Klasse die Schule. Die Sehn­sucht nach Respekt und Anerkennung führte ihn in eine Jugendbande. Mit 18 Jahren begann er mit Heroin zu dealen, wurde kurze Zeit später süchtig. Wegen Drogenhandels kam er mehrfach ins Ge­fängnis, im Alter von 21 Jahren für fünf Jahre. Mit 26 Jahren ließ er sich in die Türkei zwangs­ausweisen/abschieben – nach Igdir, die Heimat seiner Eltern. Einem Ort, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Dieser drastische Umbruch hat ihn tief getroffen.In der Türkei wurde er sofort für 17 Monate zum Militär eingezogen, was ihm half, von seiner Drogensucht wegzukommen. Nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit hat er eine Arbeit in einer Apfelsaftfabrik gefunden. Er ist glücklich verheiratet, hat einen 10-jährigen Sohn. Wegen der schlechten Wirtschaftslage in Ostanatolien sah er zwischenzeitlich für sich und seine Familie dort keine hoffnungsvolle Zukunft. Die Überlegungen, einen Antrag auf Wiedereinreise zu stellen, um nach Deutschland zurückzukehren, hat er mittlerweile verworfen. Er hat sich mit seinem Leben in der Türkei gut arrangiert und will seiner Familie, insbesondere seinem Sohn, eine Zukunft dort aufbauen.


KOMMENTAR DER REGISSEURIN ANDREA STEVENS

In den 90er Jahren waren wir Teenager, sind in Frankfurt und Offenbach aufgewachsen und hatten – wie fast jeder andere Teenager – von Jackendiebstählen, Drogen und Prü­geleien der berüchtigten Jugendbanden gehört. Berichte über die Jugendkriminalität, wachsende Bandenaktivitäten und die Erinnerungen an unsere Jugend und die Jugendbanden von früher haben uns zu dem Film TOKAT in­spiriert. Wir haben uns gefragt, was aus den Jungs und Mädchen von damals geworden ist. Es war es uns wichtig einen differenzierten Film über Jugendbanden zu machen ohne diese oder deren Mythos zu glorifizieren. Die Protago­nisten sollten sich erinnern und von ihrer Jugend erzählen. Man sieht sie in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation und erfährt dabei wie es ausgehen kann, wenn jemand als junger Mensch nach Identität, Zusammengehörigkeit und Anerkennung sucht und sie nicht findet – dort wo er zu Hause ist. TOKAT ist ein Film über ehemalige Jugendbandenmitglieder – und auch ein Film, der daran erinnert, wie es denn war als man selbst so jung war.

Foto:
© Verleih

Info:
Filmtitel: Tokat – Das Leben schlägt zurück
von Andrea Stevens und Cornelia Schendel
Filmgattung: Dokumentarfilm
Produktionsland: Deutschland, Türkei
Produktionsjahr: 2016
Länge: 78 min
Bildformat:16:9
Ton: Dolby Digital
Sprachfassung: Deutsch/Türkisch (Originalfassung mit Untertiteln)
Vorführformat: DCP
FSK: 12

Abdruck  aus dem Presseheft

Weltexpresso hatte die Frankfurter Premiere am 13. September angekündigt:
https://weltexpresso.de/index.php/kino/13877-drei-aus-einer-frueheren-tuerkischen-frankfurter-jugendgang

Außerdem wurde der Film 2016 mit einem der Preise des Hessischen Filmpreises ausgezeichnet
https://weltexpresso.de/index.php/kino/8194-der-hessische-filmpreis