f dok.leipzigDas 61. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, Teil 1/2

Kirsten Liese

Leipzig (Weltexpresso) - Mitunter lohnt es sich, Produktionen Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn sie der Beschreibung nach weniger große Erwartungen wecken. Wer hätte schon gedacht, dass ein Film über das Aufheben und Bewahren von Gegenständen mit dem unscheinbaren Titel Keeping & Saving stark berühren- und dem Internationalen Wettbewerb in Leipzig einen seiner besten Beiträge bescheren würde?

Das fängt schon damit an, dass die niederländische Filmemacherin Digna Sinke Beispiele von liebenswerter Sammelleidenschaft aufzeigt. Anders als vermutet, treiben keine pathologischen Zwänge die Protagonisten an, kistenweise Fotoalben, Reisetagebücher, Textilien aus Großmutters Zeit, Knöpfe oder gemalte Kinder-Pappfiguren zu horten, als vielmehr das Bedürfnis, Erinnerungen zu bewahren, die einem teuer sind - an Menschen, die diese Dinge einmal besessen und hinterlassen haben und an Zeiten, die nie wiederkehren werden.

Dagegen wirken die heutigen unsesshaften Minimalisten einer jüngeren Generation, die als digitale Nomaden um die Welt reisen mit einer kleinen Habe, die in einen Rucksack passt, zwar rational, aber emotional auch deutlich kälter. Die Vergangenheit bedeutet ihnen nach eigenen Aussagen gar nichts, Fotos und Erinnerungen archivieren sie nur digital auf der Festplatte ihres Laptops. Unweigerlich findet man sich über solche extremen Kontraste in einer spannenden kulturgeschichtlichen Reflektion über das Verhältnis zu Eigentum und Besitz im Wandel der Zeiten. Früher, so resümiert Sinke aus dem Off, war, wer viel besaß, reich. Wird Besitz als empfundener Ballast eines Tages gar nichts mehr wert sein? Der großartige, von den Juroren leider völlig unbeachtet gebliebene Film, im melancholischen Anstrich treffend untermalt mit Klängen von Franz Schubert, wirft viele Fragen auf, die auch die sich wandelnden zwischenmenschlichen Beziehungen berühren. Wer Kontakte weitgehend nur über soziale Netzwerke und Skype pflegt, mag eher vereinsamen.

Überhaupt geriet man in Leipzig facettenreich ins Nachdenken über das Phänomen der Vergangenheit. Ganz besonders, wenn ein Meisterregisseur wie der Grieche Theo Angelopoulos ins Spiel kommt. Zwischen den Mentalitäten der digitalen Nomaden und ihm, der kunstvoll und komplex die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart empfand, liegen Welten. Ob ihn, den großen melancholischen Epiker des europäischen Kinos, solche Entwicklungen noch trauriger gestimmt hätten?

Jedenfalls soll er selbst auch mit der Vergangenheit gelebt haben, sagt seine enge Mitarbeiterin und Vertraute Élodie Lélu. In ihrem Essay Letter To Theo gedenkt die Französin des berühmten Regisseurs, der 2012 bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film tragisch ums Leben kam. Und wie er in seinen Meisterwerken, verschränkt auch sie unterschiedliche Zeitebenen, die Griechenland-Krise, die ihr Mentor noch miterlebte, und die heutige Flüchtlingskrise. Ausgewählte Szenenausschnitte aus Angelopoulos’ Filmen verbinden sich da mit Impressionen vom heutigen Alltag von Migranten zwischen Warteschlangen, Suppenküche und Sprachkursen und Statements des Regisseurs, die unter den Bildern an seine Gedanken, Ansichten und Desillusionen erinnern. - Eine einfühlsame, poetische Spurensuche.

Auch der ukrainische Meister Sergei Loznitsa, in Leipzig seit 2002 nahezu ein Dauergast, steuert in seinem jüngsten bemerkenswerten Werk gegen die Geschichtsvergessenheit an.

Mit restaurierten Archivaufnahmen zeichnet er den 13-tägigen, perfekt inszenierten Schauprozess Stalins aus dem Jahr 1930 nach. Es ging um den Ersten Fünfjahresplan der UdSSR: Weil er zu scheitern drohte, brauchte es Schuldige. Stalin machte sie in acht technischen Akademikern aus, darunter Ingenieure, Wissenschaftler und Hochschulprofessoren. Vermeintlich wegen Sabotage, Verschwörung und Vorbereitung einer französischen Invasion standen sie vor Richter Wyschinski. Alle diese Anklagen waren erlogen und absurd, wurden aber ernst genommen. Die Delinquenten bekannten sich schuldig, obwohl die „Industrie-Partei“, der sie angeblich angehört haben sollen, gar nicht existierte. Loznitsa hat das sagenhaft beklemmende Material, das in Stalins Auftrag entstand, vorzugsweise aus einem Propagandafilm, mit langen originalen Einstellungen und ohne Kommentare montiert und in die denkbar beste dramaturgische Form gebracht. Zwischenüberschriften und Straßenzüge des Proletariats unterteilen die Befragungen, Selbstbezichtigungen und letzten Worte der Angeklagten, den Auftritt eines Scheinzeugen und die abschließenden Urteile, wobei einige Todesurteile nicht vollstreckt, sondern in langjährigen Freiheitsentzug umgewandelt wurden. Kein Dokument zuvor hat derart authentisch, gespenstisch den kafkaesken Wahnwitz der Stalin-Prozesse vor Augen geführt. Allerdings mag sich täuschen, wer in diesem Film nur eine Art Vergangenheitsbewältigung sehen möchte. Im anschließenden Publikumsgespräch befürchtet Loznitsa, dass die Verhältnisse sich im heutigen Russland kaum geändert hätten.

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