Bildschirmfoto 2018 11 15 um 23.20.13Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 15. November 2018, Teil 10

Paolo Sorrentino

Rom  (Weltexpresso) –  LORO ist eine fiktionale Erzählung in Kostümen. Sie handelt - verbürgt oder vorgestellt - von Ereignissen in Italien zwischen 2006 und 2010. Anhand einer bestimmten Konstellation von Figuren mit all ihren Schwächen und Ambitionen versucht der Film eine heute eindeutig abgeschlossene Ära zu umreißen, die man, allerdings nur auf den ersten, oberflächlichen Blick, als zutiefst amoralisch und dekadent bezeichnen könnte, aber auch als extrem lebendig.

Zugleich möchte LORO den Italienern - älteren wie jüngeren - von unserer heutigen Zeit erzählen. Von Seelen, die sich in einem ebenso imaginären wie modernen Fegefeuer wähnen und sich, angetrieben von unterschiedlichsten Leidenschaften wie Ehrgeiz, Bewunderung, Verliebtheit, Interessen oder von persönlichen Schicksalsschlägen, wie gebannt anlocken lassen von der erlösenden Verheißung eines Paradieses in Fleisch und Blut: verkörpert von einem Mann namens Silvio Berlusconi. All diese Italiener sind in meinen Augen von einem Widerspruch erfüllt: Einerseits verhalten sie sich völlig vorhersehbar, andererseits sind sie nicht zu erforschen. Dieser Widerspruch ist ein Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das uns kennzeichnet und dem der Film sich zu nähern versucht, ohne selbst ein Urteil zu fällen und stattdessen einen Tonfall anzuschlagen, der heutzutage tatsächlich revolutionär erscheinen mag: den Ton der Zärtlichkeit. Damit kommt unweigerlich ein anderer Italiener zu Vorschein. Silvio Berlusconi – jedenfalls so, wie ich ihn sehe.

LORO erzählt, auch wenn es vielleicht überrascht, die Geschichte dieses Menschen und nur am Rande die des Politikers. Man könnte einwenden, dass wir ihn doch schon ausreichend kennen würden, nicht nur den Politiker sondern auch den Menschen. Ich wage das zu bezweifeln. Ein Mensch ist, zumindest aus meiner Sicht, weit eher das Ergebnis seiner Emotionen als die Summe seiner Lebensdaten. Aus diesem Grund folgte die Wahl der zu erzählenden Ereignisse, die den Gehalt dieser Geschichte ausmachen, nicht einem von der damaligen Chronik diktierten Prinzip der „Relevanz“, sondern hat allein zum Ziel, das Innere dieses Menschen zu erforschen. Welche Gefühle also sind es, die den Mann Silvio Berlusconi in diesen Jahren Tag für Tag umtreiben?

Welches sind die inneren Regungen, die Ängste und Enttäuschungen dieses Mannes, angesichts von Ereignissen, die unüberwindlich wie Bergmassive scheinen? Das ist für mich das zweite Rätsel, dem der Film sich gegenübersieht. Die mächtigen Männer der Generation vor ihm hatten ein anderes Geheimnis: sie waren unnahbar. Wenn man von dieser Zeit spricht oder sich an sie erinnert, geht es im Kern stets um die Entkörperlichung der Macht. Silvio Berlusconi ist dagegen vielleicht der erste Machtmensch, der für ein Geheimnis der Unmittelbarkeit steht. Schon immer hat er sich als unermüdlicher Erzähler seiner selbst gebärdet. Das frappierendste Beispiel dafür ist seine Fotonovela „Una storia italiana“, mit der er sich 2001 an alle Italiener wandte. Mit dieser Aktion ist er, neben anderen, unweigerlich zum Symbol geworden. Und ein Symbol gehört, anders als ein gewöhnliches menschliches Wesen, allen in der Gemeinschaft.

Insofern repräsentiert er einen Teilaspekt eines jeden Italieners. Aber natürlich ist Silvio Berlusconi noch weitaus mehr und lässt sich nicht einfach auf einen Nenner bringen. Deshalb muss ich am Ende jemanden um Hilfe bitten, der wesentlich stärker formuliert als ich: Hemingway. In FIESTA schreibt er, dass niemand sein Leben bis zum Grund ausschöpfen kann, ausgenommen der Stierkämpfer. In freier Übertragung ist das Bild, das man sich von Silvio Berlusconi machen könnte, um ihn besser zu verstehen, vielleicht dies: er ist ein Torero. 

Foto:
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Info:
Darsteller: 
Silvio Berlusconi / Ennio Doris . . . . . . TONI SERVILLO
Veronica Lario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ELENA SOFIA RICCI
Sergio Morra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RICCARDO SCAMARCIO
Kira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .KASIA SMUTNIAK
Tamara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EURIDICE AXEN
Santino Recchia . . . . . . . . . . . . . . . . . .FABRICIO BENTIVOGLIO
Fabrizio Sala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .ROBERTO DE FRANCESCO
Paolo Spangnolo . . . . . . . . . . . . . . . . . DARIO CANTARELLI
Cupa Caiafa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ANNA BONAIUTO
Crepusculo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .ROBERT HERLITZKA

Die Selbstaussage des Regisseurs ist ein Abdruck aus dem Presseheft.