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Kategorie: Film & Fernsehen
berl19 2BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 2

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Ein starker Film und fast unverhofft ein richtig guter Film dazu. Wenn wir Benni (Helena Zengel) das erste Mal im Film sehen, halten wir sie für einen Jungen, einen ganz bösen Buben, der aussieht wie ein richtiger Engel. Aber sicher hat das tiefere Gründe und resultiert aus Vorurteilen, das mit dem Jungen, denn Benni schlägt gerade drei Kerlchen, die ihr frech kamen, zusammen und als nächstes wird sie Drehstühle gegen ein Fenster werfen, mit kaum glaublicher Kraft, unbändiger Energie und nicht nachlassender Wut.

Sie ist ein neunjähriges Kind, das aus mehreren Gründen erst aus ihrer Familie verbannt, dann von der Pflegefamilie ins Heim, dort von einem Heim ins andere geschoben wurde, wofür es jedesmal gute Gründe gab, wobei von vorneherein gesagt werden sollte, daß hier keine Schuldigen gesucht noch stigmatisiert werden, sondern die Hilflosigkeit und Überforderung aller zum Thema wird. Sie ist frühkindlich traumatisiert mit fehlender Impulskontrolle.

Benni ist der Mädchen gewordene Widerspruch, daß sie in Frieden bei ihrer Mutter und den zwei Geschwistern leben will, aber alles dafür tut, daß dies nicht möglich ist. Ihre Ausbrüche, ihre Gewalttätigkeiten, die wirklich lebensgefährlich werden, bringen jedes Anzeichen von Freundlichkeit und Heimischwerden mit Menschen oder Orten zum Erliegen. Sie gräbt sich dauernd die Grube, in die sie regelmäßig fällt.

Wir lernen sie kennen, als sie wieder einmal ein Heim verlassen muß. Später wird sie ihrem Schulbegleiter Micha (in der Rolle des Michael Heller Albrecht Schuch), eigentlich einen Anti-Gewalt-Trainer für straffällige Jugendliche, der sie auf ihre vielen Fotoalben anspricht, lakonisch antworten, daß sie bei jedem Rausschmiß ein Fotoalbum mitbekam. Sie ist noch – Gott sei dank - zu jung, um in eine geschlossene Anstalt eingewiesen zu werden, sie pendelt zwischen Jugendpsychiatrie und Heimaufenthalten, von denen gerade 27 abgesagt haben, sie aufzunehmen. Sie will sowieso nur heim zu ihrer Mama Bianca Klaaß (Lisa Hagmeister), deren widersprüchliches Verhalten sicher eines der Probleme des Kindes sind. Hier liegt eine double-bind Bindung vor. Die Mutter zeigt Nähe, schickt aber dann aus Angst davor, was Benni ihr und den Geschwistern antun könnte, ihr Kind wieder weg. Und die sich selbst erfüllende Prophezeiung bringt dann auch die Situationen in den Film, wo Benni regelmäßig die Vorurteile ihr gegenüber mit Beweisen füllt, das heißt: zuschlägt. Und zwar krankenhausreif.

Dabei hat sie nette Betreuer und um sie bemühte Menschen um sich. Das ist ein weiterer Pluspunkt für diesen Film, daß er das Verhalten des Kindes nicht als Reaktion auf Bösartigkeit von Erwachsenen hinstellt, sondern Benni – die eigentlich Bernadette heißt, was sie haßt – als Kind darstellt, das seine eigenen Impulse nicht unter Kontrolle bringt, sondern wirklich unkontrolliert auch die mit Gewalt überzieht, die es gut mit ihr meinten.

Wir erleben hier, daß gerade die Kinder, die psychisch schwer angeschlagen, die Schwächen von anderen sofort wittern, daß gerade diese Kinder überaus sensibel auf diese Schwächen reagieren und zwar wie immer nach dem Muster der Gewalt. Es gibt einige subtile Szenen im Film, die dies zeigen. Der Schulbegleiter Micha hatte Benni auf ihre dringliche Bitte hin, zu sich nach Hause zum Übernachten mitgenommen. Seine Frau, die das dritte Kind erwartet und die beiden Geschwister empfangen Benni sehr liebevoll. Es wird sogar seine Frau Ellie (Maryam Zaree) sein, die ihn beschwört, Benni dazulassen. Die wacht früh durch das Schreiben des Babys auf, holt es aus seinem Bett, damit die Eltern schlafen können. Doch als die Mutter aufwacht, das Bettchen leer findet und auch Benni nicht in ihrem Zimmer ist, verfällt sie in Panik, findet dann im Wohnzimmer beide und sagt: „Gib mir das Kind“. Benni spürt die Angst von Elli und die bringt sie zum Ausrasten. Sie verbarrikadiert sich mit dem Baby, was die Angst der Eltern schürt, zum Türeintreten führt und dazu, daß eine der wenigen Menschen, die ihr total zugetan waren, Michas Ehefrau, auf Distanz gehen.

Eine zentrale Rolle im Gefüge spielt Frau Bafané (der Gabriela Maria Schmeide eine zu Herz gehende Inbrunst verleiht) vom Jugendamt. Sie handelt nicht nur aus dienstlicher Verantwortung, sondern mag dies unglückliche Kind und versucht, ihm zu helfen, wo sie kann. Das spürt Benni und so bleibt Frau Bafané eigentlich die einzige, gegen die sich Benni nicht mit Gewalt wendet. Im Gegenteil. Eine der innigsten Szenen wird diese sein, wo die ob ihres Einsatzes für Benni und nun aller Hoffnungen ledige Frau vom Jugendamt unter der Last der Enttäuschungen zusammenbricht, buchstäblich unter Weinen die Wand nach unten rutscht, wo sie dann im Sitzen von Benni getröstet wird, die sie streichelt. Endlich ist Benni mal in der Rolle der Starken, ausgerechnet bei der Frau, die professionell dem Kind ihre Verzweiflung nicht zeigen dürfte. Aber hieran sieht man wieder einmal, daß alle Psychologie auf Sand gebaut ist, die nicht verinnerlicht, daß der Mensch ein wandelbares und sensibles Wesen ist.

Eine weitere zentrale Rolle spielt Micha, der mit seinem Vorschlag, für drei Wochen mit Benni in den Wald zu ziehen, die Unterstützung der Ämter erhält. Der für den Zuschauer angesichts der neuen Konflikte besonders interessante Aufenthalt, zeitigt Wirkung. Er zeigt aber auch, was bei uns los ist. Noch nie habe ich in einem Film unsere Welt als so laut, so kreischend, so unmenschlich, so gefahrvoll empfunden. Sind wir denn alle verrückt, so etwas zuzulassen, wie diesen Autoverkehr, der in voller Wucht uns in die Glieder fährt und die Ohren klingeln läßt. Die Wutausbrüche des Kindes erscheinen wie eine Antwort auf die Aggressivität der Umwelt. Wir glauben nicht einmal, daß die Regisseurin dies bewußt intendierte. Aber indem sie diese Welt, in der sich Benni bewegt, zeigt, hat sie schon eine der Ursachen der Unbewohnbarkeit, ja der Unwirtlichkeit unsere Lebensumstände beschrieben.

Bleibt noch die Pflegemutter Silvia (Victoria Trauttmansdorff), zu erwähnen, die als einzige eine zu diffus beschriebene Rolle ausfüllen muß. Sie war eine gute Pflegemutter, hat an Benni einen Narren gefressen, will sie wieder aufnehmen, da hängt die Handlung auf einmal in der Luft, schnell schlägt zudem Benni das weitere Pflegekind so zusammen, daß dies in Krankenhaus kommt.

Und Benni? Was wird denn jetzt mit Benni. Erst einmal soll sie nach Afrika, in ein Jugendcamp. Was als Vorschlag länger verlacht wurde, wird jetzt Wirklichkeit. Wir sehen Benni am Flughafen, wo alles gut läuft, bis sie bei der Durchleuchtung ihr Kuscheltier aus der Hand geben soll. Tut sie nicht. Stattdessen läuft sie in bewährter Manier fort, sie ist immer schneller als andere und läuft und läuft und mit einem Sprung bleibt sie in der Luft stehen, sprengt ein Fenster, aber bleibt einfach stehen. Die Zeit wird erweisen, wie es mit ihr weitergeht, aber man hat das Gefühl, da wird schon was werden.

P.S. Daß man diejenigen, die nicht mehr beschulbar, in keinem sozialen Verband aufgenommen, nur mit Gewalt Agierende SYSTEMSPRENGER nennt, war uns neu. Dies soll ein Begriff sein, der in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe unter der Hand verwendet wird, also nicht offiziell und auch nicht gerne gesehen.

Foto:
Helena Zengel
© kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer

Info:
Darsteller
Benni Klaaß         Helena Zengel
Michael Heller      Albrecht Schuch
Frau Bafané         Gabriela Maria Schmeide
Bianca Klaaß       Lisa Hagmeister
Dr. Schönemann      Melanie Straub
Pflegemutter Silvia   Victoria Trauttmansdorff
Elli Heller              Maryam Zaree
Erzieher Robert   Tedros Teclebrhan