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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2019 04 13 um 16.11.25goEast bis 16. April 2019 in Wiesbaden, aber auch im Filmmuseum Frankfurt,  Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Regisseur Elmar Imanov, geboren 1985 in der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, ist 1998 nach Deutschland ausgewandert, hat hier sein Handwerk als Filmemacher erlernt und überraschte, weil er 2012 für seine Abschlußarbeit an der internationalen filmschule köln DIE SCHAUKEL DES SARGMACHERS den Studentenoscar erhielt und 35 weitere Preise, wie wir nachlesen.

Weiß man um diesen Hintergrund, ist man nicht mehr ganz so verblüfft, wenn minutenlang vor unseren Augen sehr lebendige, bunte Hochhäuserfluchten, die Plattenbau zu nennen, zu negativ ist, mit erleuchteten Fenstern vorbeiziehen, hinter denen man Menschen werkeln sieht, poetische Eingangsszenen und in der selben Art die Endszenen, zu denen man auf Deutsch Nena mit ihrem Welterfolg von 1995 hört

99 Luftballons
Hast Du etwas Zeit für mich
Dann singe ich ein Lied für Dich
Von 99 Luftballons

Auf ihrem Weg zum Horizont
Denkst Du vielleicht grad'n mich
Dann singe ich ein Lied für Dich
Von 99 Luftballons
Und dass sowas von sowas kommt

Und das sind erst die ersten beiden Strophen, zum Schluß werden alle gesungen sein und mit ihnen die erleuchteten Fenster wie Luftballons gen Himmel schweben und dunkle Häuser zurücklassen.

99 Jahre Krieg
Ließen keinen Platz fuer Sieger
Kriegsminister gibt es nicht mehr
Und auch keine Düsenflieger

Heute zieh ich meine Runden
Seh die Welt in Trümmern liegen
Hab' nen Luftballon gefunden
Denk' an Dich und lass' ihn fliegen

Und damit sind wir beim Thema. Denn es geht um Dunkles. Es geht um das Verhältnis von Mann und Frau oder doch eher um die Dominanz und Ignoranz von Männern und was Frauen alles versuchen, sich für Männer interessant zu machen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ja, genau: mit dem eigenen Ehemann ist das erst recht nötig. Mit dem eigenen Sohn geht es etwas besser, aber nur etwas, denn wir erleben den 18jährigen mit seiner Freundin in derselben Paschahaltung, die sein Vater vormacht, wobei alles sehr viel differenzierter ist, denn gleichzeitig ist für den Sohn  dieser Vater ein einziger Loser, was er ihm auch ins Gesicht sagt und die Mutter die Ansprechperson.

Es geht um die Familie: Vater Samir (Rasim Jadarov), Mutter Fidan (Sülfiyya Qurbanova), Kind, sprich Sohn Machmud (Mir-Mövsüm Mirzadade) – die beiden Letzteren waren zum anschließenden Filmgespräch nach Frankfurt gekommen. Und diese drei Familienmitglieder werden uns in kleinen feinen Szenen so präsentiert, daß wir die Hackordnung genauso erkennen, wie die fehlende emotionale Bindung untereinander, was aber die Drei unterschiedlich wahrnehmen.

Von Anfang an ruht die Kamera auf dem Gesicht von Fidan, wie sich überhaupt der ganze Film traut, sehr lange die Gesichter in Großaufnahme zu bringen, auch wenn überhaupt nichts gesprochen wird, was man beim Zuschauen gar nicht bemerkt, weil man damit beschäftigt ist, die Mimik auf die dahinterliegenden Gefühle abzuklopfen. Das wird kurz vor Schluß kulminieren, wenn ausgerechnet der Sohn, der zuvor immer als ewig Lachender und Aufwärtsstrebender im Film umherstolzierte, viele Minuten – die echte Dauer würde mich sehr interessieren, denn ich hielt das für über fünf Minuten – in Großaufnahme auf der Leinwand erscheint und aus dem lachenden 18jährigen ein todtrauriges Kind wird, dem die Tränen aus den Augen kullern.

Hier habe wir es also mit einem Regisseur zu tun, der nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern diese mit filmischen Mitteln auch sinnlich rüberkommen läßt. Schon, wie in der Eingangsszene die Mutter die Tomaten schneidet, anbrät, die Eier darüber, die der Sohn dann verzehrt, es liegt etwas Alltägliches in der Luft, wie auch Subtiles und Besonderes. Das Alltägliche hatten wir ja mit dem Verhalten des Vaters schon gekennzeichnet. Der liegt meist auf der faulen Haut, schläft also viel, der Sohn übrigens auch – aha in Aserbaidschan schlafen die Männer viel – während die Frauen den Haushalt besorgen und auch noch für das Geldverdienen sorgen.

So hat Fidan ein Angebot, als Krankenpflegerin in der Nähe von Berlin zu arbeiten und möchte die beiden Männer ein halbes Jahr später nachholen (wenn das nur mal nicht die AfD mitkriegt, die nächste Bundestagsanfrage wäre gewiß). Der Sohn setzt sich längst ab und hat eine Baustelle als Wohnung gemietet, wo er seine Freundin empfängt, die anfangs und sehr lange ein genauso gequältes, auch weinendes Gesicht zeigt wie Fidan. Das dümpelt so alles vor sich hin, bleibt aber immer interessant. Aber im Nachhinein kulminiert alles in der Szene, in der die Drei erstmals echte Familie spielen, zusammen ans Meer fahren, obwohl das Wasser noch recht kalt ist und sich im Sand niederlassen, essen, trinken.

Der Vater versorgt sich dann erstmal mit Whisky, was den tiefen Schlaf danach einsichtig macht. Die Mutter sehen wir als letzte Einstellung im Bikini am Wasserrand. Nachher werden andere im Wasser sein, jemand wird vermißt, die Rettung kümmert sich....aber als Samir aufwacht, ist Fidan verschwunden. Vater und Sohn suchen sie. Doch sie taucht nicht auf. Ist sie zu weit hinausgeschwommen? Abgehauen? Aber ihre Papiere, ihr Portemonnaie, ihr Handy, alles ist da. Wir denken natürlich mit denen, die sie in den Fluten untergegangen vermuten und denken darüberhinaus, daß dies freiwillig geschah, denn ihre Leidensmiene war unübersehbar.

Doch auf einmal ist sie am frühen Morgen zurück in der Wohnung. Ganz lange ruht die Kamera wieder auf ihrem Gesicht, das wenig ausdrückt. Wo sie gewesen sei, fragen Vater und Sohn. Und sie erzählt umständlich eine Geschichte von Wasser und Rettung, vom Fischer, der half. Die beiden glauben ihr kein Wort. Sie steht als Lügnerin da. Verblüfft schaut sie ihre beiden Männer an und sagt dann, ja, das sei gelogen gewesen. Sie habe eine Affäre und der Mann wohne dicht am Strand, weswegen sie zum ihm gegangen sei, der habe Besuch gehabt, erst von einem Freund, dann einem zweiten. Ob sie mit ihm geschlafen habe, will Samir wissen und ist erst beruhigt, als sie „Ja“ sagt. Und erst richtig ganz beruhigt, als sie bestätigt, ja sie habe auch mit dem anderen geschlafen und mit dem Dritten auch und alle zusammen. Ob das ein echter Dreier gewesen sei, will Samir wissen, mit allen Körperöffnungen, die er benennt. Und als sie bejaht, muß er das erst einmal ausschlafen. Und daß er nun einverstanden ist, daß sie nach Berlin geht und die beiden ein halbes Jahr später nachkommen, rundet den Niedergang des Patriarchats dann noch ab. Köstlich.

Im anschließenden Gespräch, das wegen der Sprachsituation schwierig wurde, bekräftigte sie die eigene Vermutung, daß der Mutter erste Geschichte des Untergangs in den Fluten und Rettung durch den Fischer die wahre sei. Doch Männer glauben eben eher eine echte Männergeschichte mit viel Sex, in der die eigene Ehefrau die Hauptrolle spielt. Das ist wirklich eine hintertriebene Logik, bzw. Psychologik. Hut ab vor dem Regisseur und den Geschichtenerzählern. Und wie gut, daß die Beteiligten sich getraut haben, ohne Etat, ohne geregelte Finanzierung schon mal anzufangen, die dann nach und nach, auch unter deutscher Beteiligung zustandekam.

Kommentar: Wirklich ein beeindruckender Film und zusammen mit dem vorherigen ein fulminanter Auftakt des Wiesbadener goEast-Festivals im Kino des Filmmuseums. Das sollte sich stärker herumsprechen, denn in den Kinos sehen wir diese Filme kaum. Die sind übersät mit Hochglanzprodukten aus den USA. Aber in diesen Filmen aus Osteuropa darf man mitdenken, mitphantasieren. Gut so.l

Wir hätten gerne mit dem Regisseur gesprochen. Religion oder Moscheen, geschweige denn Verschleierung kommen in diesem Film nicht vor. Aserbaidschan ist aber ein muslimisches Land, wie der benachbarte Iran schiitisch. Die Frauen im Film sind jeodch sehr ausgezogen.

Und dann Nena. Doch, die Funktion des Liedes als Ein – und Aussteig fühlt man irgendwie schon. Trotzdem erstaunlich, vor allem für uns, die wir die Sängerin just vor 12 Tagen zur Eröffnung der Musikmesse Frankfurt ihre alten Welterfolg 99 LUFTBALLONS haben schmettern hören.

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