Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2019 04 19 um 22.23.59Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. April 2019, Teil 8

Claudia Schulmerich/Sergey Dvortsevoy/Redaktion

Wiesbaden  (Weltexpresso) - Wenn man im Rahmen des Filmfestivals goEast gerade viele Filme aus Ost- und Mitteleuropa sehen durfte, eben auch russische Filme, Filme, die bis Kasachstan oder Aserbaidschan reichen, Filme, die ein anderes Sehverhalten erzwingen, als wir normalerweise im Kino, wir Journalisten in Pressevorführungen, im Fernsehen, in DVDs, Streaming- oder Sichtungslinks mit ihrer amerikanischen Orientierung der vollen Leinwand und des total ausgeschmückten Ablaufs, dann muß man anfangen, mitzudenken, mitzufühlen und für mich gilt, daß ich sage, ich darf in diesen Filmen meine eigenen Gedanken haben, meine eigenen Gefühle entwickeln, weil es sehr offene Filme sind.


Doch dies sind deutsche Zuschauer längst nicht mehr gewöhnt und es ist wie in der Gastronomie, wo es im Wirtschaftswunderland hieß: "Wo Autos sind, fahr'n Autos hin", was sich darauf bezog, man solle nur in Restaurants gehen, wo auf dem Parkplatz ein Auto am anderen steht. Und als wir in früheren Jahrzehnten noch regelmäßig Filme aus dem Osten in deutschen Kinos sehen konnten, waren die Leute das gewöhnt. Aber wenn man kaum mehr einen Film aus Osteuropa im Kino läuft, dann gehen die Leute eben leider nicht besonders interessiert hin, sondern, wenn es kaum Filme gibt, dann werden die noch nicht einmal angeguckt. So ist das im Kapitalismus mit Angebot und Nachfrage. 

Aber AYKA hat es ja erstaunlicherweise in unsere Kinos geschafft und man kann nur auffordern, dieses ungewöhnlichen Film zu erleben. Der russische Regisseur Sergey Dvortsevoy ist in Kasachstan geboren und nach besagtem Filmfestival goEast kann man gar nicht anders, als sofort an den kasachischen Regisseur und seinen Film DIE ZÄRTLICHE GLEICHGÜLTIGKEIT DER WELT zu denken, für den er den Regiepreis und sein Hauptdarsteller den Darstellerpreis erhielt. Ein so poetischer wie spannender wie skurriler und gleichzeitig pointiert gesellschaftskritischer Film. Toll. Das war aber nur ein Weiterdenken, denn jetzt geht es um den russischen Regisseur Sergey Dvortsevoy und seinen Film AYKA, zu dem er auch das Drehbuch verfaßte. 


REGIEKOMMENTAR

Es begann mit einer trockenen Zeitungsstatistik: „Im Jahr 2010 wurden in Moskauer Geburtskliniken 248 Babys von Müttern aus Kirgisistan aufgegeben.“ Ich stand lange Zeit unter Schock, nachdem ich das gelesen hatte: Wie kann das sein? Was könnte der Grund dafür sein, dass kirgisische Mütter ihre Babys freiwillig massenhaft aufgeben und in einem fremden Land zurücklassen? Was könnte sie zu einer solchen Tat zwingen, die für jede Frau, aber erst recht für Frauen aus den so sehr familienorientierten Kulturen Zentralasiens, unnatürlich ist?

Mir wurde klar, dass ich einen Film darüber machen musste: einen Film über ein kirgisisches Mädchen, das sein neugeborenes Kind auf einer Moskauer Entbindungsstation verlässt, und die Umstände, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Tatsache ist jedoch, dass es in diesem Film um uns alle geht: um das, was passiert, wenn die Beziehungen zwischen einem Menschen und seiner Umwelt so extrem werden, dass er oder sie moralisch zu verfallen beginnt.

Das Leben selbst, die Natur, muss eingreifen und den Einzelnen zwingen, sein Verhalten neu zu bewerten und zu verändern, manchmal sogar gegen seinen oder ihren Willen.


Über den Regisseur

Der russische Regisseur Sergey Dvortsevoy wurde 1962 in Schymkent, Kasachstan, geboren. Er absolvierte 1982 die Luftfahrtschule in Krywyj Rih, Ukraine, und setzte sein Studium an der Radiotechnischen Fakultät des Elektrotechnischen Instituts in Nowosibirsk fort. Anschließend besuchte er die Film-Schule in Moskau und schloss diese 1993 ab. Er arbeitete neun Jahre lang als Radiotechniker für die Fluggesellschaft Aeroflot. Nach mehreren Dokumentarfilmen drehte Dvortsevoy 2008 seinen ersten Spielfilm: TULPAN. Der vielbeachtete Film feierte seine Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Cannes, wo er mit dem Prix Un Certain Regard ausgezeichnet wurde. Filmografie (Auswahl) 2018 AYKA – Cannes Film Festival, Wettbewerb 2008 TULPAN – Cannes Film Festival, Un Certain Regard 2004 IN THE DARK (Dokumentarfilm) 1999 HIGHWAY (Dokumentarfilm) 1998 BREAD DAY (Dokumentarfilm) 1995 PARADISE (Dokumentarfilm).

Foto: 
© Verleih

Info:
Besetzung

Ayka                 Samal Yeslyamova
Chinara            Zhipargul Abdilaeva
Vermieter         David Alaverdyan
Tierarzt            Sergey Mazur
Besitzer Autowaschanlage         Slava Agashkin
Vorarbeiter Geflügelproduktion   Ashkat Kuchinchirekov